Das Erwachen
diese andere Sichtweise.«
Henry beugte sich nach vorn, stützte die Arme auf und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei nicht ich selbst. Als ich das letzte Mal bei dir war, hier in diesen Räumen, kam es mir auch wie ein Traum vor. Aber später, bei mir zu Hause, da warst du Realität. Das geht mir oft so. Später warst du Realität, als ich etwas zeitlichen Abstand gewonnen hatte. Klaus, was ist das?«
Ludevik hütete sich davor, ein Urteil abzugeben. Aber Henry ließ nicht locker. Und so umschrieb Ludevik das Verhalten, was er bei anderen kennen gelernt habe, beschönigend als Identitätskrise, ohne das Wort paranoid zu erwähnen.
»Habe ich auch eine?«, fragte Henry, nun schon ruhiger geworden.
»Haben wir nicht alle irgendwann mal eine?«, scherzte Ludevik.
»Weich mir nicht aus.«
»Henry, so weit bin ich noch nicht. Aber eine solche Krise ist nichts Schlimmes. Viele haben so etwas.«
Henry sah ihn skeptisch an. »Verheimlichst du mir auch nichts?«
»Nein, Ehrenwort.«
»Nur gibt es sicherlich auch unterschiedliche Ausprägungsarten. Stimmt es? Harmlose und weniger harmlose.«
»Wie überall«, wich Ludevik aus. »Warum bist du heute gekommen?«
»Um dir zu sagen, dass ich manchmal neben mir stehe, mein eigener Beobachter bin. Ich sehe, wie ich mich falsch oder anders als sonst benehme und will eingreifen. Aber es geht nicht. Ich selbst habe zu mir keinen Kontakt.«
Ludevik bot seine Hilfe erneut an. »Möchtest du jetzt mit mir über gewisse Dinge reden, offen und frei reden?«
Henry zögerte mit der Antwort. »Weiß ich noch nicht. Bisher habe ich all meine Probleme selbst gelöst.«
»Und früher waren es deine Eltern.«
»Ja, kann man sagen. Aber das ist schon lange her.«
»Und wie löst du deine Probleme?«
»Indem ich nachdenke und erst dann entscheide. Hier, mit Logik. Mit Köpfchen.« Henry tippte sich mit einem Finger gegen die Schläfe. So wie vor ein paar Tagen.
Ludevik lächelte. »Das ist gut, wirklich gut. Also hast du ja auch nachgedacht und entschieden, zu mir zu kommen. Folglich willst du dein Problem lösen.«
Zögernd gab Henry dies nach einer Weile zu. Ludevik hatte ihn mit den eigenen Argumenten gefangen.
»Dann wollen wir auch gleich damit beginnen. Henry, seit wann ist die Ordnung bei dir so stark ausgeprägt?« »Schon immer«, antwortete der Angesprochene fest, ohne lange nachzudenken. Und wiederholte: »Schon immer.«
»Aber es muss einen Anfang geben.«
Henry überlegte. »Als Kind vielleicht, da hat es angefangen, ganz früh als Kind. Ich glaube, meine Eltern haben mich so erzogen. Ja, so könnte es angefangen haben. Kinder werden doch immer von Eltern erzogen.«
»Was haben sie getan oder gesagt?«
Henry überlegte erneut. »Ordnung ist ein Gerüst, haben sie gesagt. Ein Gerüst für dich und dein Leben. Wenn du Ordnung hältst, dann weißt du genau, wo alles ist und du kannst immer direkt darauf zurückgreifen. Du brauchst nicht zu suchen. Das spart Zeit und Geld. Und außerdem bist du anderen gegenüber immer im Vorteil.«
Ludevik nickte und schrieb. »So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Ich kenne dich nur als ordentlichen Menschen.«
»Ist das was Schlimmes?«
Ludevik lächelte. »Keineswegs. Es hilft wirklich. Ich zum Beispiel habe fast keine Ordnung und bin immer am Suchen. Manchmal stundenlang. Da geht natürlich viel Zeit verloren.«
»Siehst du!« Henry grinste ihn an.
»Gut, zurück zu deiner Ordnung. Deine Eltern haben also darauf hingewirkt und dich unterstützt, dich gefördert. Kann man das so sagen?«
»Nur am Anfang. Später nicht mehr«, verbesserte Henry.
»Ab wann nicht mehr?«
»Hm, ich würde sagen …, so etwa mit zwölf oder dreizehn. Ja, zwölf oder dreizehn.«
»Ab diesem Zeitpunkt war also dein Zimmer immer aufgeräumt, dein Schreibtisch, dein ganzes Leben.«
»Nicht nur mein Zimmer. Alles in unserem Haus. Ich konnte blind bei Dunkelheit in die Küche gehen und wusste genau, wo der Dosenöffner war. Oder wo das Spültuch hing.«
»Das hat dir doch enorm geholfen.«
Henry nickte. »Sicher, das kann man so sagen. Ja, es hat mir wirklich geholfen, bis heute hat es geholfen. Zuerst einmal soll sich jeder in seinem Bereich und in seinem Leben zurechtfinden, bevor er es bei anderen versucht. Die meisten Menschen haben in ihrem Leben keine Ordnung.«
»Wer sagt das?«
»Meine Eltern haben das gesagt.«
»Versuchst du es auch bei anderen mit der Ordnung?«
»Wenn sie
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