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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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die Hände festgehalten, dass er sich nicht rühren konnte.
    Und mein Papa hat geweint. Ich habe Papa noch nie weinen sehen. Mami hat ihn später getröstet und gesagt, das bekäme sie schon wieder hin. Mami ist zu dem Mädchen gefahren und zu ihren Eltern und hat mit ihnen gesprochen. Und die waren einverstanden. Sie hat es dann wegmachen lassen. Mami hat gemeint, jetzt gäbe es keine Schande mehr. Jetzt sei wieder alles in Ordnung.«
    Ludevik sah von seinen Notizen auf und beobachtete Henry. Der blickte aus dem Fenster. Keine Regung war in seinem Gesicht zu sehen. Henry erweckte den Eindruck, als sei er entrückt. Seine Gedanken waren auf einer weiten Reise.
    »Wann hattest du diesen Traum?«
    Henry reagierte nicht.
    Der Psychologe fragte ein zweites Mal.
    »Was?« Henry schaute Ludevik an. »Ach so. Vorgestern. Ja, richtig, vorgestern. Aber es war kein Traum.«
    »Wieso war es kein Traum?«
    Mit besonderer Betonung, um seiner Stimme Glaubhaftigkeit zu verleihen, antwortete Henry: »Ich war wirklich in dem Weinkeller.«
    »Woher kannst du das wissen?«
    »Weil ich am anderen Tag das Pflaster unter dem Regalboden gefunden habe.« Henry lächelte triumphierend. »Ich habe mich überlistet.«
    Ludevik erkannte die innere Zerrissenheit von Henry. Auf der einen Seite erzählte er ihm all seine Träume um wenig später zu behaupten, es seien keine Träume gewesen, zumindest nicht in dem gerade vorhin geschilderten Fall. Ihm kam es vor, als blockierte Henry sich selbst, indem er nach logischen Erklärungen suchte und seinen Träumen mit dem Verstand begegnen wollte. So wie die Henrys Auffassung nach gewiefte Aktion, sich mit Hilfe eines Pflasters zu überlisten. Ludevik ahnte schon jetzt, sie würden kein Pflaster finden. Und das wiederum erklärte ihm, Henry konnte Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden.
    »Darf ich mir den kleinen Raum gleich mal anschauen?«
    »Warum nicht.« »Gut. Dann hätte ich noch einige Fragen. In welchem Monat bist du geboren?«
    »Oktober, dreißigster Oktober. Weltspartag.«
    »Und wann haben deine Eltern geheiratet?«
    »Im Mai.«
    »Und in welchem Jahr?«
    »Im gleichen Jahr.«
    Also sechs Monate vorher. Ludevik nickte, als hätte er so etwas erwartet. Und als könne er nun einige Zusammenhänge verstehen.
    Zehn Minuten später führte Henry ihn in den Weinkeller. Als er das Licht anmachen wollte, war die Birne defekt.
    »Heute morgen brannte sie noch«, verteidigte er sich und wechselte sie erneut aus. Bei Licht kniete er sich auf den Boden und schaute unter das Regal. »Hier muss es doch irgendwo sein«, murmelte er vor sich hin.
    Ludevik bückte sich und sah selbst nach. Aber er konnte kein Pflaster entdecken.
    »Bist du sicher, dass du es an diese Stelle geklebt hast?«
    »Ja, absolut.«
    »Aber ich sehe nichts. Wo könnte es sonst sein?«
    Henry erhob sich und zuckte mit der Schulter. »Klaus, ich weiß es nicht. Aber ich schwöre, ich habe es hier hingeklebt. Genau unter dieses Regal.«
    Ludevik schaute erneut nach und sah nichts. Dafür jedoch war weiter hinten in der Ecke etwas unter den letzten Pfosten geschoben worden. Er nahm es an sich. Ein Stück ausgefranster Stoff, der Rest eines Taschentuches. Und er roch etwas. Als wenn der Raum erst kürzlich gereinigt worden wäre. Am stärksten roch es in der Nähe des Bodeneinlaufes.
    Ludevik erhob sich, ließ seinen Fund in der Hose verschwinden und ging mit Henry ins Wohnzimmer. Er kannte es von früheren Besuchen. Besonders aufgeräumt kam es ihm heute nicht vor.
    »Henry, kannst du in den kommenden Tagen bei mir vorbeischauen?«
    »Warum?«
    »Ich möchte mit dir reden.«
    Henry blockte ab. »Habe viel zu tun. Autos verkaufen sich nun mal nicht von selbst. Außerdem bin ich nicht krank.«
    Ludevik verstand diese Haltung nicht, weil Henry ihm schon so viel erzählt hatte. »Natürlich bist du nicht krank. Aber ich bin sehr neugierig. Und ich möchte mit dir herausfinden, wo das Pflaster abgeblieben ist.«
    Aber alles an Henry war Ablehnung. Jedoch hatte Ludevik den Eindruck, dass diese Ablehnung nur vorgeschoben war, sozusagen als Schutz vor der Erkenntnis, er brauche vielleicht doch diese Gespräche.
    »Henry, wir machen ein Spiel.«
    Henry schaute ihn skeptisch an. »Was für ein Spiel?«
    »Beantworte mir bitte ganz ehrlich drei Fragen. Sagst du jedes Mal ja, dann kommst du zu mir, einverstanden?«
    »Was soll der Quatsch«, erboste sich Henry. »Was ist daran ein Spiel?«
    Ludevik merkte, dass Henry wieder aggressiver

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