Das Erwachen
keine Antwort.
»Willst du denn nicht wissen, wie es weiter geht? Meine Studentenzeit? Und wie ich in den Betrieb eingestiegen bin?«
Und weil auch jetzt niemand antwortete: »Gut, dann also nicht. Dein Pech. Ich schweige wie ein Grab.«
Wohl zehn Minuten hielt sich Henry daran. Plötzlich sprang er auf und lief umher. Zwei kurze Schritte in die eine, Drehung um einhundertachtzig Grad, zwei kurze Schritte in die andere Richtung. Unvermittelt begann er zu lachen und zu kichern. »Will einfach nichts mehr wissen«, murmelte er vor sich hin. »Kann zuerst nicht genug bekommen, und nun will sie einfach nichts mehr von mir wissen. Bin wohl uninteressant geworden. Ein von Rönstedt ist immer interessant. Egal, was er tut oder was er sagt. Kapiert? Und deshalb siehst du dich getäuscht. Ich erzähle einfach, und du hast mir zuzuhören. Hast du verstanden?«
Als keine Antwort kam: »Natürlich hast du verstanden. Melde dich, wenn ich aufhören soll. Und nun höre gefälligst zu.«
Aber zuerst setzte Henry seine seltsame Wanderung fort. Dabei fuchtelte er mit den gefesselten Händen umher, als gäbe es Fliegen zu vertreiben. Und seine Lippen formten stumme Worte. Dann wiederum stieß er mit den Händen nach vorn, als gelte es, sich gegen einen Feind zu wehren. Dabei kicherte Henry. Sicherlich hatte er ihn gerade besiegt.
»Noch keine Woche war ich zum Studium in Mainz, da kam meine Mami mich besuchen. Sie brachte mir was zu essen mit und frische Unterwäsche. Und sie war sehr von meinem Apartment angetan. Alles war an seinem Platz. Dann wollte sie auch noch die Universität sehen und die Vorlesungsräume. Den Gefallen habe ich ihr getan. Zufällig trafen wir einen meiner Professoren. ›Dass Sie mir ja gut auf meinen Jungen aufpassen‹, hat sie zu ihm gesagt. Der hat sich vielleicht gewundert! ›Für meinen Jungen ist nichts gut genug. Er ist etwas Besonderes.‹
In der Mensa rümpfte sie die Nase. Hier könne man doch nicht essen, das sei doch so wie in einer Kaserne. Und seit diesem Tag, Mami hat mein Taschengeld erhöht, aß ich immer in einem Restaurant. Schön gedeckt und sauber, nicht so viele Leute und nicht so laut. Und die Tischdecken immer weiß. Und der Tisch auch immer richtig eingedeckt, weil man mich bald kannte. Na, hast du das schon gewusst?« Henry schaute hoch. »Oder ist das neu für dich? Es ist doch nicht neu für dich, stimmt es? Du kennst mich doch.«
Henry erhielt keine Antwort und plapperte weiter. »Meine Mami hat Angst bekommen vor den vielen Studentinnen. Kurze Röcke, enge Blusen und dazu auch noch geschminkt. Du lässt dich doch wohl nicht mit denen ein, hat sie gefragt. Du weißt doch überhaupt nicht, aus welchem Elternhaus sie stammen. Und dann die vielen Krankheiten, die es gibt. Nimmst du auch täglich deine Vitamine? Ja, Mami, habe ich gesagt. Zwei Pillen am Tag und ein Glas Orangensaft auf nüchternen Magen. Jeden Morgen. Das ist brav von dir. Lassen dich die Mädchen wenigstens in Ruhe? Dabei hat Mami mir über die Haare gestreichelt und mir einen Kuss gegeben. Ich habe mich etwas geschämt, denn gerade in dem Augenblick gingen zwei Studentinnen vorbei, die ich kannte. Und meine Mami sagte auch: Mein Junge, gib acht, Frauen sind schlecht. Sie wollen nur das eine: sich einen reichen, gut aussehenden Mann angeln und ihm ein Kind andrehen. Sieh dich also vor. Mach uns keine Schande. Dein Vater würde das nicht überleben.«
Henry machte eine Pause, blieb stehen und schaute sich in seinem engen Raum um. »Komisch, das hier kommt mir bekannt vor. Ich habe ein Mädchen kennen gelernt, und da war auch so ein kleiner Raum, und eine Decke auf dem Boden. Aber das Licht war nicht an. Und Mami hat Recht behalten. Sie hat mich auf die Decke gezogen und war auf einmal nackt. Aber ihre Haut roch gut, nicht so, wie Mami gesagt hat. Und sauber war sie auch. Was wir getan haben, das hat mir gefallen. Am kommenden Tag taten wir es wieder. Jetzt erinnere ich mich auch, wo das war. Bei ihr zu Hause auf dem Speicher. Sie hat im Hunsrück gewohnt, bei Simmern, genau auf der Strecke nach Hause. In einem alten Bauernhaus. Ich habe sie immer mit meinem Auto mitgenommen. Es gab dafür Benzingeld. Nicht viel, immerhin zehn Mark. Und dann ist Mami auf einmal wütend geworden. Und Papa noch mehr. Er hat mich geschlagen, seit Jahren wieder geschlagen, obwohl ich einen Kopf größer war als er. Und dann hat er geweint. Ich habe mich gewehrt und zu ihm gesagt, er solle das nie wieder tun. Dabei habe ich ihm
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