Das Evangelium nach Satan
wunderbarerweise überlebt haben und sich wohl von Krähen, Katzen, Hunden und anderem Getier ernährt haben. Darauf jedenfalls weisen die am Boden liegenden Schädel, Gerippe und Rattenschwänze hin. Auch Überreste von Käuzen liegen im Staub, deren weniges Fleisch die Greise von den Knochen genagt haben, um über den ärgsten Hunger hinwegzukommen. Zu solch unaussprechlichen Scheußlichkeiten hat die Pest die stolzen Lederkünstler von Maccagno genötigt. Dem wachsamen Blick des Inquisitors entgeht nicht, dass die Trappisten zwar bei Weitem nicht so feist sind wie früher, sich aber durchaus die Kutte noch über dem einen oder anderen Bauch wölbt. Der Sache muss er nachgehen, zumal er in den Augen dieser Männer einen eigentümlichen Glanz entdeckt hat.
4
Während sich die Armbrustschützen so verteilen, dass sie den ganzen Hof bestreichen können, beugt sich Landegaard zu einem seiner Männer und flüstert ihm etwas zu. Dann richtet er sich erneut im Sattel auf und wendet sich an die Mönche: »Ich habe erfahren, dass die Leiche eines Pestkranken den Brunnen Eures Klosters vergiftet hat. Ich erwarte Eure Erklärung.«
Totenstille antwortet ihm, bis sich schließlich eine heisere Stimme meldet: »Herr, wir haben Schnee geschmolzen und Regenwasser gesammelt.«
Einer der Schreiber schlägt ein dickes, in Leder gebundenes Buch auf, das er Landegaard auf die Knie legt. Dieser geht einige Seiten durch.
»Für den Schnee des zurückliegenden Winters kann ich diese Erklärung gelten lassen, doch nach den Angaben der Vögte von Como und Carvagna hat es im ganzen Frühjahr nur vier Gewitter gegeben.«
Erneut legt sich Schweigen über die Versammlung.
»Rollt die Ärmel auf und zeigt meinen Schreibern Eure Arme.«
Auf den von Schmutz bedeckten Unterarmen sieht er zahlreiche verkrustete Narben. Der Wassermangel hat die Trappisten dazu getrieben, ihr eigenes Blut zu trinken. Die Schützen spannen ihre Waffen, die Mönche werfen sich zu Boden und flehen den Inquisitor an, sie zu verschonen. Er gebietet ihnen Schweigen und erklärt: »Solche Dinge sollten wir dem Richtspruch Gottes überlassen. Er wird gewiss angesichts dessen, was unsere Seelen in dieser Zeit des Untergangs erleiden mussten, Erbarmen mit uns haben. Nicht Eure Verirrungen haben mich hierher geführt, wohl aber die Suche nach einer alten Nonne, die mitten im Winter aus ihrem Kloster am Mons Cervinus fliehen musste. Ich weiß, dass sie hier war, und erwarte, dass Ihr mir genauestens berichtet, was Ihr wisst.«
Wieder schweigen alle. Ungeduldig herrscht er sie an: »Habt Ihr etwa auch Eure Zunge verschluckt? Euer Abt Alfredo de Toledo soll sich zeigen.«
Gemurmel läuft durch die nach wie vor am Boden kniende Versammlung. Nach einer Weile steht ein alter Mönch auf und nähert sich mit gesenktem Kopf. Landegaard hebt ihm mit der Reitgerte das Kinn an, um sein Gesicht zu sehen. Ein flackernder Blick liegt in den Augen des Mannes.
»Ich kenne Euch aus dem Seminar in Pisa, Don Alfredo. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, habt Ihr damals unter einer Schicht Puder eine üble Narbe verborgen, die das Messer eines Straßenräubers in Eurer Wange hinterlassen hatte. Sollten Hunger und Durst sie haben verschwinden lassen?«
»Die Zeit hat sie getilgt, Eure Exzellenz, die Zeit.«
Die Gerte pfeift durch die Luft und reißt die Wange des Mannes auf. Blut tropft zu Boden. Aufheulend schlägt der Alte beide Hände vor das Gesicht.
»Da habt Ihr Eure üble Narbe zurück, lügnerischer Bruder.«
An die anderen Mönchen gewandt, fügt er drohend hinzu: »Ihr elenden Schweine, ich gebe euch so viel Zeit, wie ein Stein braucht, um aus meiner Hand zu Boden zu fallen, damit Ihr mir sagt, was mit Eurem Abt geschehen ist. Wenn nicht, sehe ich mich genötigt, Euch meinen Männern zu übergeben, die Euch mit Nachdruck befragen werden.«
Eine zitternde Stimme erhebt sich aus der Reihe der Knienden. »Eure Exzellenz, Pater Alfredo ist vor einem Mond abgerufen worden.«
»Und wollt Ihr mir sagen, woran er gestorben ist?«
»Es war Gottes Wille. Er ist entschlafen, wir haben Totenwache bei ihm gehalten und ihn dann beigesetzt.«
Landegaard wirft seinen Schreibern einen fragenden Blick zu. Der mit allen finsteren Abgründen der menschlichen Seele wohl vertraute alte Ambrosio streicht sich zweifelnd den Bart. Auch der Inquisitor glaubt dem Mönch kein Wort.
»Führt mich zum Friedhof, und zeigt mir sein Grab.«
Zu Landegaards Füßen blitzt etwas auf. Der verwundete
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