Das Evangelium nach Satan
den Dolomiten entgegen.
Als Carzo sieht, dass Maria die Tränen über das Gesicht laufen, drückt er sie noch kräftiger an sich. Sie war aus nächster Nähe Zeugin der Methoden der Inquisition geworden, und sicher würde es eine ganze Weile dauern, bis sie das Gesehene verarbeitet hat.
»Sie haben gesagt, dass sich Mutter Gabriella auf den Weg zur Zisterzienserabtei Santa Madonna di Carvagna gemacht hat. Das ist doch richtig, oder?«
»Ja.«
»Gut. Für den Augenblick genügt das. Wir müssen jetzt eine längere Pause einlegen, damit Ihre Visionen Sie nicht umbringen.«
»Heißt das, wir lassen die Sache auf sich beruhen?«
»Unmöglich. Aber inzwischen weiß ich, dass sie die Handschrift an keinem der Orte zurückgelassen hat, die sie auf ihrer Flucht aufgesucht hat.«
»Könnte es sein, dass es ihr gelungen ist, sie den Zisterziensern von Carvagna zu übergeben?«
»Ich glaube nicht, dass das ihre Absicht war. Außerdem haben die Trappisten von Maccagno Superiore zumindest in einem Punkt nicht gelogen.«
»Und welcher ist das?«
»Tatsächlich hat in jenem Jahr die Pest jene Abtei heimgesucht. Aus den Archiven geht hervor, dass die Mönche einer Hochschwangeren Obdach gewährt hatten, ohne zu wissen, dass sie den Keim der Krankheit in sich trug. Sollte Mutter Gabriella dort angeklopft haben, dürfte ihr niemand geöffnet haben, denn im Kloster von Maccagno gab es nur noch Leichen. Also werden wir uns unmittelbar dem Augustinerinnenkloster in den Dolomiten zuwenden, in dem Landegaard und seine Männer den Tod gefunden haben, denn dort endet auch die Spur der Handschrift sowie die Fährte von Mutter Gabriella.«
Maria muss an den letzten Brief des Inquisitors denken, den sie in der Bibliothek der Weltfernen Schwestern von Denver gelesen hat und in dem er dem Papst mitgeteilt hatte, dass die Gespenster seiner Wache im Begriff stünden, die Tür zum Bergfried aufzubrechen, in den er sich geflüchtet hatte. »Mir … mir fehlt die Kraft, das noch einmal zu durchleben.«
»Keine Sorge. Ich bin nicht so verrückt, Sie unmittelbar vor seinem Tod zu Landegaard zu schicken. Auch mir ist klar, dass Sie das nicht überstehen würden.«
Dicht an den Exorzisten gedrängt, hört sie, wie ihrer beider Herzschlag in der Stille miteinander verschmilzt. Sie weiß, dass er die Unwahrheit sagt. Wieder laufen ihr Tränen über die Wangen.
»Ich werde mich aber in Mutter Gabriella einfühlen müssen, damit wir das Evangelium auffinden können.«
»Ich werde Sie begleiten.«
»Nein, Alfonso, ich werde allein mit meinen Nägeln in der Erde des Friedhofs graben, wenn die Augustinerinnen ihren Leichnam beigesetzt haben. Ich werde allein sein, und das weißt du auch.«
Carzo fühlt ihren Atem auf seiner Wange. Er versenkt sich in den angstvollen Blick der jungen Frau, deren Lippen sich jetzt fest auf seinen Mund legen.
»Maria …«
Er versucht, noch ein wenig Widerstand zu leisten. Dann schließt er die Augen und erwidert ihren Kuss.
6
Rom, zweiundzwanzig Uhr
Besorgnis liegt auf den Zügen des Kardinals Patrizio Giovanni. Soeben hat ihn ein Fahrer abgeholt, den es unübersehbar große Mühe kostet, seinen Wagen durch eine der endlosen Prozessionen zu steuern, die dem Petersplatz entgegenstreben. Über dem Vatikan liegt eine sonderbare Stille. Es ist, als halte die Kirche den Atem an. Selbst aus den Reihen der Pilger steigen kaum noch Geräusche auf. Man könnte sie für ein Heer von Gespenstern halten. Doch in erster Linie bereitet es Kardinal Giovanni Sorgen, dass seit dem Dahinscheiden des Papstes nichts mehr seinen normalen Gang geht – jedenfalls nichts von dem, was die von alters her festgelegten geheiligten Regeln der Kirche vorschreiben. Hat nicht der Kardinal Camerlengo Campini erst vor wenigen Stunden erklärt, man müsse Seine Heiligkeit unverzüglich beisetzen und das Konklave gleich danach abhalten, ohne die übliche Frist, die Anstand und Trauer verlangen? Etwas so Unerhörtes hat es seit Jahrhunderten nicht gegeben.
Um die Mitte des Nachmittags war der alte Camerlengo auf die Konzilstribüne gestiegen, um dem Kardinalskollegium diese Mitteilung zu machen. Begründet, um nicht zu sagen gerechtfertigt, hatte er die Entscheidung mit der Erklärung, die Kirche befinde sich in einem so schwierigen Fahrwasser, dass die Wahl eines neuen Papstes dringend geboten sei, damit sich das Schiff auf Kurs halten lasse. Giovanni hat noch das missbilligende Gemurmel in den Ohren, das durch die Reihen der Prälaten
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