Das Evangelium nach Satan
Festungsmauer. Mutter Isolde hockt gekrümmt in der engen Nische, in die sie sich eingemauert hat. Sie kann weder stehen noch sitzen – dazu ist es zu niedrig und zu eng. Schweiß bedeckt ihren fiebrigen alten Leib. Alle Körperteile schmerzen so sehr, dass es sie große Mühe kostet, vor Qual nicht aufzuschluchzen. Während sie auf den Tod wartet, betet sie, fleht Gott an, er möge sie zu sich rufen. Unaufhörlich murmelt sie lautlos vor sich hin, um die Angst zu beschwichtigen, die sie nicht mehr verlässt, um nicht mehr denken zu müssen, um zu vergessen.
Nach und nach füllen Mutter Isoldes Erinnerungen Marias Gedächtnis an. Ein Reiter taucht aus dem Dunst auf und ruft etwas zur Mauerkrone empor. Ein Wagen rumpelt durch das Tor in den Klosterhof. Mutter Isolde beugt sich vor: Inmitten der Körbe und Säcke mit Lebensmitteln entdeckt sie eine menschliche Gestalt. Die alte Nonne. Auf diese Weise also ist Mutter Gabriella zu den Augustinerinnen gelangt. Am Ende ihrer Kräfte war sie einige Meilen davor mitten im Wald zusammengebrochen, und dort hatte der mitleidige Landmann sie gefunden. Mutter Isolde hat Angst. Ein Lederbeutel und eine Tuchhülle sind aus dem Habit der Alten gefallen, als die anderen Nonnen den abgezehrten Körper aufgehoben haben, um ihn ins Warme zu bringen.
Hitze, brennend heißer Sand, Hammerschläge gegen das Holz, und das Geheul des Tieres in der Stille. Maria öffnet die Augen und sieht das bleiche Licht des Himmels. Golgatha. Drei Kreuze nebeneinander. Die beiden Schächer sind tot. Christus brüllt, blutige Tränen laufen ihm über die Wangen. Die fünfzehnte Stunde des Tages. Sonderbare schwarze Wolken sammeln sich über dem Kreuz. Es ist fast so dunkel wie in der Nacht. Er hat Angst. Ihn friert. Er ist allein. Er hat die visio beatifica verloren, die unmittelbare Anschauung Gottes, die nur den Seligen zuteil wird. Er hört den Donner grollen und spürt, wie eiskalter Hagel auf seine schweissnassen Schultern prasselt. Während er vor Verzweiflung laut aufschreit, verlässt ihn sein Glaube so wie der letzte Atemzug einen Sterbenden. Maria beißt sich auf die Unterlippe. Die Todespein und der Tod Gottes. An jenem Tag, da sich Christus in Janus verwandelt hatte, hatte die Finsternis den Sieg davongetragen.
Mutter Isolde schließt den Lederbeutel und greift nach der Stoffhülle. Maria spürt etwas Schweres in den Händen der Oberin: eine sehr alte, in schwarzes Leder gebundene Handschrift. Zwischen den Buchdeckeln liegt ein festes stählernes Schloss. Das Evangelium der Seelenräuber. Das Leder des Einbands fühlt sich so warm an wie die Haut eines Menschen.
Geheul dringt aus der Zelle, wohin die Augustinerinnen die Alte gebracht haben. Mutter Isolde eilt durch die Gänge. Sie hat Angst. Sie beugt sich über die gequälte Nonne, die in einer unverständlichen Sprache vor sich hin brabbelt. Dann hört sie auf zu keuchen, und ihre Augen werden glasig. Als sich Mutter Isolde aufrichtet, fahren die Hände der Toten unter dem Laken hervor und packen sie an der Kehle. Sie fürchtet zu ersticken, ihre Finger schließen sich um den Griff eines Dolchs. Schwarzes Blut breitet sich auf den Tüchern aus, als der Alten die Klinge in den Hals dringt. Gleich darauf durchweht ein eiskalter Luftzug die Zelle.
Stiefelabdrücke. Immer rascher folgen Mutter Isoldes Erinnerungen aufeinander. Sie sieht erneut die an der Mauer gekreuzigte Schwester Sonja, sieht, wie sich Schwester Clementia aus ihrem Grab erhebt und ihr in der Dunkelheit zulächelt. Die Spuren ihrer Füße im Lehm und das Geräusch ihrer Schritte auf der Treppe zum Bergfried, wohin sich Mutter Isolde mit ihrer jüngsten Novizin geflüchtet hat. Dreizehn Nächte, dreizehn Morde. So also schlachtet das Tier die Nonnen ab: Jedes Opfer steigt aus seinem Grab, um die nächste Mitschwester zu toten. Die Seelenräuber.
Die Erinnerungen des letzten Tages. Maria sieht, wie Mutter Isolde mit eigener Hand ihre letzte Novizin in der weichen Erde des Friedhofs begräbt. Sie hat das Evangelium und den Janusschädel an sich genommen. Auf der Treppe hinab in die Tiefen des Klosters, wo sie sich einmauern will, verrenkt sie sich die Knöchel. Mit Ziegeln und Mörtel schließt sie eine kleine Nische in einer Stützmauer, in die sie sich mit einigen Kerzen und wenigen Habseligkeiten geflüchtet hat. Da, jetzt fügt sie den letzten Stein ein. Sie braucht nur noch auf den Tod zu warten. Sie bemüht sich, den Atem anzuhalten, um schneller zu sterben.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher