Das Evangelium nach Satan
nicht den Leib öffnete, bevor man sie beerdigte, eine ganze Anzahl Eurer erlauchten Vorgänger in ihrem Grab erstickt sind. Ihr werdet Gelegenheit haben, den Besuch der Einbalsamierer mitzuerleben, die Euch die Eingeweide herausnehmen werden. Dankt Gott und hört auf, Euch sinnlos abzumühen. Die Stunde ist nahe, da sich der Schwarze Rauch des Satans erneut über die Welt ausbreiten wird.«
Als Seine Heiligkeit sieht, dass sich Campinis Hand seinem Gesicht nähert, begreift er, dass alles vorbei ist. Während sich seine Lider unter den Fingern des Camerlengos wie ein Grab schließen, stößt der Greis ein langes lautloses Geheul aus, das am Rand seiner Lippen erstirbt.
9
Langsam schreitet Carzo in den unterirdischen Gewölben des Aztekentempels voran und betrachtet aufmerksam die nächsten Darstellungen, die der Schein seiner Fackel der Dunkelheit entreißt. Andere Stämme, denen das heilige Feuer nicht zuteil geworden war, haben es den Olmeken gestohlen, sie dann versklavt und auf die andere Seite des großen Flusses gebracht, wo sie zum Ruhm der Obergötter Tempel und riesige Städte in Fronarbeit errichten mussten. Überdies haben ganze Heere die wenigen Auserwählten verfolgt, denen die Flucht gelungen war. Mit hämmerndem Herzen sieht Carzo, wie sich die Wasser eines Flusses vor den Olmeken teilen, um sie durchzulassen. Hinter ihnen schließen sie sich wieder und verschlingen deren Verfolger.
Die nächste Darstellung. Auf der Suche nach ihrer verlorenen Heimat irren die Olmeken durch den Dschungel. Ihre einzigen Wegweiser sind die Sterne. Unterwegs ersteigt der Schamane des Stammes einen Vulkanberg. Auf seinem Gipfel übergibt ihm der Lichtgott, der seine Vorfahren den Gebrauch des Feuers gelehrt hatte, Tontafeln. Carzo vermag die uralten Schriftzeichen, die sie bedecken, nicht zu entziffern. Der Eingang zum Tempel ist nur noch ein fernes weißes Rechteck in der Finsternis hinter ihm.
Die Flamme der Fackel erhellt die nächste Darstellung. Die Olmeken sind in ihr verlorenes Land zurückgekehrt. Sie haben zum Ruhm des Lichtgotts prächtige Städte errichtet. Mehrere Jahrhunderte sind ins Land gezogen. Trunken von Reichtum und Stolz haben sie eine riesige Pyramide errichtet, welche die Wolken durchdringen und bis zum Himmel reichen soll. Erneut haben sie sich vom Licht abgewendet, dem sie ihr Dasein verdanken, woraufhin es erloschen ist. Damit haben die Olmeken etwas aufgeweckt, das aus dem Dschungel hervorgekommen ist. Das beschreiben die letzten Darstellungen: das große Übel, das sich mit einem Mal über die einst zum Ruhm des Lichtgotts errichteten steinernen Städte der Olmeken gesenkt hat. Die Stufen ihrer Pyramiden stöhnen unter der Last der Leichen. Es ist ein großes Übel, gegen das weder kämpferischer Mut noch Pfeile etwas auszurichten vermögen. Daher machen sich Frauen und Kinder auf, in einem langen Zug aus den Städten in den Schutz des Dschungels zu fliehen. Doch dort sind die Pflanzen verkümmert, und eine graue Schimmelschicht hat die Bäume vergiftet. Die olmekische Kultur steht im Begriff zu erlöschen. Es bleibt nichts als Moos und Schlingpflanzen, die nach und nach ihre Geisterstädte bedecken.
Carzo bleibt vor der letzten Darstellung stehen. Sie zeigt eine ungeheure Pyramide im blutroten Licht des Sonnenuntergangs. Auf ihrer Spitze stehen drei schwere Holzkreuze, an denen drei von der Sonne entsetzlich verbrannte Menschen den Tod erwarten. Vom mittleren Kreuz herab betrachtet ein bärtiger Mann mit vor Hass verzerrtem Gesicht die Menge, die ihn schmäht. Er ist entsetzlich abgemagert, und seine weiße Haut sticht deutlich von der dunklen der beiden anderen Gekreuzigten ab. Er trägt eine Dornenkrone auf dem Kopf, und man sieht, dass ihm ein Dorn in die Braue gedrungen ist. Allmächtiger, barmherziger Jesus.
Das Gesicht Christi am Kreuz, auf der Spitze einer olmekischen Pyramide! Ein Christus, den die Menge dem Tod ausgeliefert hat. Doch der, den sie da ermorden, ist nicht der gute Hirte der Evangelien, nicht der Gesalbte, dessen Herz vor Mitgefühl für die verirrten Menschen überquillt, ganz im Gegenteil. Jener Christus dort, das brüllende Ungeheuer, das sich am Kreuz windet und dabei dem Himmel flucht, ist der Teufel persönlich. Die Geißel der Olmeken.
Das Licht der Fackel wird schwächer. Carzo hat gerade noch Zeit, die Zeichen zu lesen, welche die Azteken oberhalb des Kreuzes als Mahnung für kommende Generationen hinzugefügt haben, um die Menschheit auf das Geschehene
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