Das Evangelium nach Satan
ist es auf immer erloschen. Dann ist es zu einer Katastrophe gekommen, einem Orkan oder einem Erdbeben. Der Himmel hat sich verfinstert, und auf der nächsten Darstellung sieht man, dass die Wasserfälle jetzt den See mit Blut speisen. In Abwesenheit des göttlichen Lichts sind die Bäume verkümmert, und eine Schicht Fäulnis bedeckt die Stämme. Es ist die gleiche graue Lepra, die gegenwärtig das Gebiet der Yanonámi heimsucht.
Carzo reißt die Augen auf. Auf der nächsten Darstellung stößt die junge Olmekin lautlos Schreie aus, während der Jaguar-Gott sie inmitten der Trümmer des Paradieses vergewaltigt. Carzo kann den Blick nicht von dieser Szene abwenden. Jetzt ist er der Jaguar-Gott. Er spürt förmlich, wie die Bestialität in ihn eindringt. Das absolute Böse – als sei die Darstellung mit dem Sakrileg getränkt, das sie beschreibt.
Er geht weiter. Die Begegnung mit dem Jaguar-Gott hat den Leib der Frau anschwellen lassen. Aus dem Paradies vertrieben, irren die beiden Olmeken durch den Dschungel. Sie erreichen den Ozean, und Carzo sieht, dass sich ihr Gesichtsausdruck verändert hat, ihr Rücken gekrümmt ist und ihre Hände dicht über dem Boden hängen.
Die Jahrhunderte vergehen im Licht von Carzos Fackel. Die Morgendämmerung der Menschheit. Vulkane, untergegangene Inseln. Riesige Vögel fliegen über den Himmel. Carzo sieht gestirnte Unendlichkeiten, eine Reihe von Planeten sowie Kometen, welche die Nacht erhellen. Er sieht auch die Nachkommen des Jaguar-Gottes, die sich in den Sümpfen verkrochen haben.
Unvermittelt bleibt der Exorzist stehen: Die nächste Darstellung zeigt Olmeken-Krieger, die in einer Höhle am Boden knien. Ein himmlischer Bote, dessen Gesicht eine flammende Wolke umgibt, schwebt über ihnen. Carzo hebt die Fackel. Während Blitze aus den Händen des Boten fahren, enthüllt er den Olmeken das Geheimnis des Feuers. Carzos Staunen nimmt immer mehr zu, je näher er mit der Fackel der Decke kommt. Schließlich erhebt er sich auf die Zehenspitzen, um sich das Gesicht des Boten genau anzusehen.
Großer Gott, das ist doch nicht möglich.
Der Abgesandte des Himmels, den Carzo im Licht seiner Fackel erkannt hat, ist derselbe, der von Gott den Auftrag hatte, der Jungfrau Maria die Geburt Jesu zu verkünden, derselbe, der sechshundert Jahre später Mohammed den Text des Korans eingegeben hat: der Erzengel Gabriel.
8
Im Vatikan
Drei Stunden. Ein Blick auf die Wanduhr zeigt Seiner Heiligkeit, dass er seit drei Stunden weder etwas sagen noch sich regen kann. Das war ganz unvermittelt gekommen. Er wollte nach dem Glöckchen auf dem Tisch neben dem Bett greifen. Anfangs war alles nach Wunsch gegangen, die Hand näherte sich dem gewünschten Gegenstand, doch dann streckte sich der Ellbogen, und die Schultermuskeln zogen sich schmerzhaft zusammen. Im selben Augenblick, da die Finger die Metalloberfläche des Glöckchens berührten, durchfuhr ihn unversehens eine Welle von Kälte. Zwar war das verwünschte Glöckchen noch da, aber das Empfinden von dessen Gegenwart war verschwunden. Als hätten sich die Moleküle, aus denen es bestand, mit einem Mal in einen unsichtbaren und unhörbaren Regen verwandelt. Als sich dann die Bewegungsunfähigkeit durch den ganzen Arm bis in die Schulter ausgebreitet hatte, war es Seiner Heiligkeit klar geworden, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann hörte er eine Art pochendes Geräusch in der Tiefe seines Gehirns. Eine Ader, die sich ausdehnte, bis sie dicht an der Hirnhaut platzte, das Blut, das ausströmte, die Schädelhöhle anfüllte und damit Worten und Bewegungen Einhalt gebot. Damit war der alte Mann in einem Winkel seiner selbst eingeschlossen. Seither hört er, wie die Uhr tickend die Sekunden zählt, während er mit weit offenen Augen in eine Welt blickt, deren Bilder wie aus einer fernen Galaxie zu ihm gelangen.
Ein Geräusch. Der Papst lauscht. Was er hört, sind die Glocken der Peterskirche. Sie laden zum mittäglichen Angelus-Gebet. Mit einem Mal erinnert er sich … Ihm fällt die Unterhaltung ein, die er am frühen Morgen mit Kardinal Camano geführt hat. Sein Privatsekretär hat eine Karaffe mit Wasser auf einen Beistelltisch gestellt. Er muss an den erdigen Geschmack in seiner Kehle und an die Übelkeit denken, die seinen Magen zusammengezogen hat. Nach Camanos Fortgang hat sich Seine Heiligkeit eine Weile hingelegt, um vor dem Beginn des Konzils Kräfte zu sammeln. Er ist eingeschlafen und hat vom Schwarzen Rauch und den Seelenräubern
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