Das Evangelium nach Satan
befand. Dazu haben sie die schmuddelige kleine Wohnung, die Mary-Jane Barko gemietet hatte, als sie mit ihrem Koffer und ihrem roten Kopftuch nach Hattiesburg gekommen war, ebenso gründlich durchsucht wie das von Sandy Clarks im Voraus bezahlte schmuddelige Zimmer in einem Motel am Ortsausgang. Auch den Wohnwagen Patricia Grays, von dessen Stellplatz aus sie allabendlich mit einem klapprigen Pick-up zur Arbeit gefahren war und den vom alten Clarence Biggs als Wohnraum eingerichteten Heuboden, den er stolz Dorothy Braxton vorgeführt hatte, vermutlich nicht ohne ihr Hinterteil lüstern durch seine getönten Brillengläser zu begutachten.
Die vier Frauen hatten nacheinander Hattiesburg aufgesucht, weil sie wussten, dass sich Kaleb dort aufhielt, dem sie schon lange auf der Spur waren. Sie waren entschlossen, ihn diesmal in die Zange zu nehmen. Aber warum um alles in der Welt war er auf das fern von allem inmitten dichter Wälder und Fischteiche liegende Hattiesburg verfallen? Wohl kaum wegen seiner Texaco-Tankstelle, seines von Kakerlaken wimmelnden Kettenrestaurants oder seiner Papiermühle. Hatte er seinen Verfolgerinnen dort eine Falle stellen wollen? Vermutlich. Maria schließt die Augen. Die nach Hattiesburg führende Fährte endete in der Krypta mitten im Wald bei Kaleb und den vier gekreuzigten Nonnen. Vorhang. Jetzt musste sie bei den Weltfernen Schwestern weitersuchen, sich in die Vorstellungswelt des Mörders versetzen, jeden seiner Schritte nachvollziehen und herausbekommen, was die Opfer entdeckt hatten, bevor sie nach Hattiesburg kamen. Ganz offensichtlich war es etwas, womit sie ihr Todesurteil herausgefordert hatten.
12
Ein Gong hallt aus dem Lautsprecher über ihr. Mit metallisch klingender Stimme gibt der Flugkapitän bekannt, dass die 737 im Begriff steht, das Gebiet der Großen Seen zu überfliegen. Maria hebt den Blick von ihrem Ordner, beißt in ihren Apfel und sieht zum Fenster hinaus. Die dichte Wolkenschicht ist verschwunden. Tief unten lässt sich das Südufer des Michigan-Sees mit den Wolkenkratzern von Chicago erkennen. Mit einem Schluck Mineralwasser vertreibt sie den mehligen Geschmack des Apfels, dann blättert sie zu der Stelle, an der Crossman die in den Unterkünften der Verschwundenen gefundenen Berichte beigefügt hat. Rund fünfzig Blätter beschäftigen sich mit der Untersuchung, die der Vatikan nach der Ermordung Weltferner Schwestern in Afrika, Argentinien, Brasilien und Mexiko angeordnet hatte. Diese Klöster in den fernsten Winkeln der Erde dienten der römischen Kirche als Versteck für ihre geheimsten Handschriften. Es waren keine Bergfestungen wie in Europa oder den Vereinigten Staaten, sondern Lehmhütten tief im Dschungel oder in der Savanne. Bei dieser Mordserie waren dreizehn alte Frauen abgeschlachtet und gekreuzigt worden. Den Mörder, den sie verfolgten, hatten die vier Verschwundenen von Hattiesburg als Kaleb den Wanderer bezeichnet. Dreizehn Morde in sechs Monaten – da kann auch ein Massenmörder einen Terminkalender brauchen … Allerdings hatte Kaleb keinesfalls blind drauflosgemordet. Er war auf der Suche nach einer von den Weltfernen Schwestern im Schutz eines ihrer Klöster verborgenen Handschrift, die er um jeden Preis an sich bringen musste. Das Satansevangelium.
Maria geht die Botschaften durch, die diese vier Frauen im Lauf ihrer Verfolgungsjagd miteinander ausgetauscht hatten. Die erste Nachricht war sechs Monate zuvor unter der Rubrik »Familienanzeigen« in der Liberia Post von Monrovia erschienen.
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Liebe Cousinen, Großmutter ist in ihrem Haus von Buchanan auf tragische Weise verschieden, Anwesenheit zur Beisetzung erforderlich.
In tiefer Trauer, Dorothy
Da Braxton diese Mitteilung in einer afrikanischen Zeitung hatte einrücken lassen, war anzunehmen, dass sich ihre Mitschwestern zu jener Zeit ebenfalls in Afrika aufgehalten hatten. Lediglich für Mary-Jane Barko galt das nicht, denn sie war von Sandy Clarks über eine Anzeige im englischen Daily Telegraph informiert worden. Barkos Antwort war am nächsten Tag im selben Organ erschienen.
Treffe um 13 Uhr am Flugplatz von Buchanan ein. Eure Cousine Mary-Jane
Maria nimmt sich den Bericht der liberianischen Polizei vor, den der Direktor des FBI etwas weiter hinten beigeheftet hat. Darin heißt es, man habe in der Provinzhauptstadt Buchanan eine alte Nonne in ihrem Kloster ermordet aufgefunden: die angebliche Großmutter aus der von Dorothy Braxton in der Zeitung von
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