Das Evangelium nach Satan
geträumt, vom am Kreuz tobenden Janus und vom leeren Himmel darüber. Er ist hochgefahren, mit trockener Kehle und schwerem Kopf. Sein Herz schlug schwach, und es kam ihm vor, als könne er schlechter sehen als zuvor. Daher hat er nach dem Glöckchen auf dem Tisch greifen wollen. Weil er einen erdigen Geschmack im Mund hatte. Gott, erbarme dich meiner …
Von großer Angst erfasst, versucht er Arme und Beine zu bewegen. Das Geräusch von Schritten lässt ihn aufmerken. Er will den Blick in die Richtung lenken, aus der das Geräusch kommt, doch bleiben seine Augen zu seiner Verzweiflung an die Decke geheftet. Ein Luftstrom streicht über sein Gesicht.
Er hört Gemurmel. Menschen beugen sich über ihn, während eine Hand nach seinem Puls tastet. Er erkennt das Gesicht seines Leibarztes, die faltige Stirn seiner Haushälterin sowie die müden Züge der beiden päpstlichen Protonotare, deren verschleierter Blick das Schlimmste ahnen lässt.
Einige Sekunden lang hüllt ihn eine Wolke aus Gemurmel und Gesichtern ein, die sich von fern über ihn beugen, dann setzt ihm der Arzt das Stethoskop auf die Brust. Vergeblich, er hört das Herz nicht. Langsam schüttelt er bedauernd den Kopf und steckt das Stethoskop ein. Von Panik erfasst, versucht der Papst der Versammlung von Dummköpfen, die ihn für tot halten, ein Zeichen zu machen. Es würde genügen zu zwinkern, die Lider kaum wahrnehmbar zu bewegen. Oder eine winzige Veränderung in seinem Blick. Ja, das ist die Lösung! Er wird eine Empfindung ausdrücken, ein Gefühl, nichts als ein Flämmchen an der erloschenen Oberfläche des Glaskörpers.
Er bemüht sich, die Schicht zu durchbrechen, die seine Augen bedeckt, als ein blendendes Licht ihm durch die Netzhaut bis in einen fernen Winkel seines Gehirns dringt, wohin sich sein Bewusstsein geflüchtet hat. Im Schein seiner Lampe beobachtet der Arzt die Pupillen. Sie ziehen sich unter der Wirkung des Lichts nicht zusammen. Daraufhin hört der Greis das Seufzen, das der Arzt ausstößt, während er erklärt, Seine Heiligkeit weile nicht mehr unter den Lebenden.
Während sich der Papst ein letztes Mal mit allen Kräften bemüht, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, hört er, wie sich die Tür zu seinen Gemächern öffnet. Schritte. Das Gemurmel erstirbt. Die Menschen, die sich über Seine Heiligkeit gebeugt haben, richten sich auf und überlassen ihren Platz dem Camerlengo, der soeben eingetreten ist. Seine Züge sind im Gesichtsfeld des Papstes übergroß; dieser Kardinal hat den Auftrag, den Tod Seiner Heiligkeit offiziell festzustellen. Der gute alte Campini. Sicher wird er merken, dass der Papst noch nicht tot ist. Er wird das Nötige veranlassen und dafür sorgen, dass man ihn in die Gemelli-Klinik bringt, wo man ihn beatmen wird. Dann werden eineinhalb Milliarden Gläubige auf der ganzen Welt für seine Genesung beten. Ja, so wird es geschehen. Daher bietet der Greis, als der Camerlengo seinen Lippen einen Spiegel nähert, erneut alle Kräfte auf, um den schwachen Hauch auszuatmen, der beweisen wird, dass noch ein Fünkchen Leben in ihm ist. Er spürt, wie sich seine Kehle zusammenzieht, und während Campini den Spiegel wegnimmt, um dessen Oberfläche zu begutachten, sieht Seine Heiligkeit, dass er sich ein wenig beschlagen hat. Der Camerlengo muss begreifen, dass etwas nicht stimmt. Unmöglich kann er diesen Anflug von Beschlag übersehen, der sich bereits unter der Wirkung der im Raum herrschenden Kühle verflüchtigt. Na bitte! Der Papst liest in dessen Augen, dass er den Hauch wahrgenommen hat. Worauf also wartet er noch, um dem Arzt seine Beobachtung mitzuteilen und dafür zu sorgen, dass man ihn ins Krankenhaus bringt?
Durch die halb geschlossenen Lider versucht Seine Heiligkeit, das Funkeln in den Augen seines Camerlengos zu deuten: Hoffnung und frohe Kunde? Das Blut erstarrt ihm in den Adern. Nein, das Aufflackern im Blick des obersten vatikanischen Prälaten hat etwas anderes zu bedeuten. Frohlocken liegt darin. Frohlocken und Hass. Großer Gott, er tut einfach so, als ob er nichts gesehen hätte …
Nachdem der Camerlengo den Spiegel abgewischt hat, um ihn wieder in die Tasche seiner Soutane zu stecken, betrachtet er aufmerksam die starren Augen, die ihn unverwandt ansehen. Dann beugt er sich über den Papst und flüstert ihm ins Ohr: »Eure Heiligkeit, mir ist klar, dass Ihr mich hören könnt. Wisst, dass in Zeiten, die gar nicht besonders lange zurückliegen und in denen man den Päpsten
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