Das Evangelium nach Satan
klargemacht, dass die Mordserie weit über den Staat Maine und sogar über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinausreicht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Crossman gibt ihr einen Ordner. Er enthält eine durch Unterlagen des FBI ergänzte Kopie der in den Unterkünften der Nonnen entdeckten Aufzeichnungen.
»Während man Sie in Liberty Hall zusammengeflickt hat, sind wir die Archive der wichtigsten Tageszeitungen auf der ganzen Welt durchgegangen und dabei auf eine ganze Reihe ähnlicher Anzeigen gestoßen, die unsere vier Nonnen überall auf der Welt aufgegeben hatten. Es geht dabei um fünfzehn Fälle, in denen Mitschwestern verschwunden waren. Daraufhin haben wir uns mit den Polizeidienststellen der betreffenden Länder in Verbindung gesetzt, um zu erfahren, ob dort weitere Ritualmorde oder Fälle von spurlosem Verschwinden bekannt sind.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Im Verlauf des letzten halben Jahres hat es mindestens dreizehn identische Morde gegeben.«
»Nonnen?«
»Schon, aber nicht irgendwelche, sondern immer Angehörige des bewussten Ordens der Weltfernen Schwestern. Dreizehn von ihnen sind gekreuzigt und aufgeschlitzt worden.«
Die abgedunkelte Scheibe vor Crossmans wachsbleichem Gesicht fährt wieder hoch. Während ihr der Regen auf Schultern und Rücken prasselt, sieht Maria dem Wagen nach, der im Verkehrsstrom verschwindet.
7
Carzo geht in der Dunkelheit vorwärts und hält dabei den Blick auf den Lichtfleck gerichtet, den seine Fackel an die Decke wirft. Nach einer Weile bleibt er stehen. Farbig gefasste Flachreliefs bedecken die Wände und die Decke des unterirdischen Raums. Sicher eine Hinterlassenschaft der Azteken, ein Hinweis auf ihre Anwesenheit in Amazonien. Zweifellos ein Stamm, der auf der Flucht vor den spanischen Eroberern die Hochebene von Yucatán verlassen musste und sich daraufhin nach neuen Gebieten umgesehen hat. Mit Sicherheit ist das, was da in der reglosen Finsternis des Tempels Jahrhunderte überdauert hat, ein kunsthistorischer Schatz von unvergleichlicher Bedeutung.
Carzo hebt die Fackel, bis die Flamme an der Gewölbedecke leckt. Seine Augen weiten sich. Die erste Darstellung zeigt eine Art Garten mitten im Urwald, ein paradiesisches Stückchen Erde. Ein dichter Vorhang von grüner Vegetation umschließt einen hell leuchtenden See, den Wasserfälle speisen. Überall legen Bäume voller Früchte ihren Schatten auf das Land. Am Seeufer werfen ein Mann und eine Frau von verwirrender Nacktheit ihre Netze aus. Es sind Olmeken, die Vorfahren der Azteken, deren Kultur zu Beginn unserer Zeitrechnung untergegangen ist, ohne dass man die näheren Umstände und die Gründe kennt. Carzo spürt, wie seine Kehle trocken wird. Vermutlich wollten die Azteken mithilfe dieser Darstellungen berichten, was mit ihren Vorfahren geschehen war. Was er da sieht, war sozusagen das Testament der Olmeken.
Der Abbildung zufolge handelte es sich bei den beiden, die ihre Netze auswerfen, um Kal und Kella. Bei näherem Hinsehen hat Carzo den Eindruck, dass etwas nicht stimmt. Er weiß noch nicht recht, was es ist, aber irgendetwas beunruhigt ihn. Er kneift die Augen zusammen und konzentriert sich auf die Indiofrau. Als er begreift, erstarrt ihm das Blut in den Adern.
Das Wasser des Sees reicht dem Mann bis zu den Knien und der Frau bis zu den Oberschenkeln. Über ihrer unbehaarten Scham hat der Künstler keinerlei Hinweis auf etwas angebracht, das einem Nabel ähnlich sähe. Carzo betrachtet jetzt die Darstellung des Mannes. Auch hier von der Scham bis zum Brustbein glatte und feste Haut, gleichfalls ohne die geringste Vertiefung, die auf einen Nabel hinweisen könnte. Er wischt sich den Schweiß ab, der ihm urplötzlich auf die Stirn getreten ist. Wie bei Abbildungen von Adam und Eva im Garten Eden lässt der nicht vorhandene Nabel am Leib der beiden Olmeken darauf schließen, dass sie nicht von einer Frau geboren wurden. Es sind die beiden ersten Menschen, Geschöpfe Gottes. Das aber bedeutet schlicht und einfach, dass die Landschaft mit den verblassten Farben, die Carzo da betrachtet, nichts anderes sein kann als der untergegangene Garten Eden der Olmeken.
Langsam lenkt der Exorzist seine Schritte zu den nächsten Darstellungen. Auf einem anderen Flachrelief zeigt eine leuchtend helle Gottheit einer Olmeken-Frau die Frucht eines Baums, die sie nicht essen darf. Doch da die junge Indiofrau dem Licht infolge der Einflüsterungen des ihr im Traum erschienenen Jaguar-Gottes ungehorsam war,
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