Das Evangelium nach Satan
Marias Augen, als sie einige Seiten später auf einen Bericht der südafrikanischen Wasserschutzpolizei trifft. Es geht darin ziemlich zusammenhanglos um mehrere sonderbare Erscheinungen, die sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober, also eineinhalb Wochen, nachdem die vier Nonnen Kalebs Spur verloren hatten, vor Tristan da Cunha zugetragen haben sollen, einer über zweitausendfünfhundert Kilometer von der Küste Südafrikas entfernt liegenden Inselgruppe mitten im Atlantik.
Auf dem Kreuzfahrtschiff Sea Star habe man ein Seenotsignal des Containerschiffs Melchior aufgefangen, das von Kapstadt aus auf dem Weg nach Argentinien war. Daraufhin habe sich die Sea Star der Melchior genähert, die steuerlos dahinzutreiben schien.
Besatzungsmitglieder der Sea Star seien an Bord des Containerschiffs gegangen und hätten an Deck niemanden gefunden. Dann habe einer der Männer voll Entsetzen über sein Funksprechgerät gemeldet, auf den Gängen unter Deck sei alles voll Blut. Nach einer Weile seien die Leute von der Sea Star auf vier entsetzlich verstümmelte Leichen gestoßen. Schließlich hätten sie in einem Winkel auf der Brücke die Stelle entdeckt, an die sich die letzten Überlebenden der Melchior geflüchtet hatten, bevor sie aufgespürt und ebenfalls niedergemetzelt worden waren. Von dort sei wohl auch das Seenotsignal gesendet worden.
Fieberhaft geht Maria die Seiten von Crossmans Bericht durch, um die Daten zu vergleichen. Nach Durban war zwei Monate lang nichts gewesen, dann aber hat Patricia Gray erneut eine Anzeige aufgegeben, diesmal im La Nación von Buenos Aires. Die Jagd ging weiter. Maria blättert einige Seiten zurück, um den Bestimmungshafen der Sea Star festzustellen: Punta Arenas auf Feuerland, an der äußersten Südspitze des südamerikanischen Kontinents. Sie schließt die Augen, um das Schwindelgefühl zu vertreiben, das in ihr aufsteigt. Offensichtlich hatte der Mörder Kapstadt als blinder Passagier an Bord des Containerschiffs Melchior verlassen, das die Nonnen beim Auslaufen gegen die Strömung hatten kämpfen sehen, während sie den Blick über das dunkle Wasser vor Afrikas Südspitze gleiten ließen. Zweifellos hatte er sich irgendwo tief unten im Laderaum nahe der Bilge versteckt. In der Nähe von Tristan da Cunha war er wohl entdeckt worden, woraufhin er die Mannschaft abgeschlachtet hatte. Als er dann von der Brücke aus, wohin sich die letzten Überlebenden der Melchior geflüchtet hatten, die Lichter der näherkommenden Sea Star erkannte, hatte er ein Boot zu Wasser gelassen, um so nahe an das Kreuzfahrtschiff heranzukommen, dass er sich an Bord schleichen konnte. Dort hatte er sich dann verborgen gehalten, bis es beim nächsten Mal festmachte.
Hunderte von Urlaubern, die ahnungslos auf den Decks über Kaleb in ihren Betten gelegen hatten. Übelkeit steigt in Maria auf, als sie sich vorstellt, was geschehen wäre, wenn jemand auf der Sea Star das Untier entdeckt hätte.
15
Nachdem die Nonnen von dem Massaker an Bord der Melchior erfahren hatten, waren sie nach Chile geflogen und wenige Stunden vor dem Eintreffen der Sea Star am Flughafen Carlos Ibañez von Punta Arenas gelandet. Sie waren sogleich zum Hafen geeilt und hatten auf das Einlaufen des Kreuzfahrtschiffs gewartet. Dorothy Braxton hatte es als Erste gesehen, als es sich durch die schäumenden Wasser der Magellanstraße langsam näherte.
Die Nonnen hatten mit Ferngläsern das Deck abgesucht, wo sich Hunderte von Menschen drängten. Einen nach dem anderen hatten sie aufmerksam gemustert und sie auch beim Verlassen des Schiffs über die Landungsbrücke nicht aus den Augen gelassen. Von Kaleb keine Spur.
Sie hatten den Einbruch der Nacht abgewartet, um sich an Bord der Sea Star zu schleichen, wo sie mit Taschenlampen den ganzen Kielraum abgesucht hatten. Dabei waren sie unterhalb der Wasserlinie hinter Rohrleitungen auf Kalebs Versteck gestoßen. Wie seit Monaten schon entdeckten sie auch hier die Spur von Tod und Verwüstung, die er zurückließ. In diesem Fall waren es Rattenkadaver, tote Fliegen und andere Insekten. Aber noch etwas war ihnen ins Auge gefallen: Während der sechzehn an Bord verbrachten Tage hatte Kaleb in der Finsternis einen Wald von Kreuzen und ein Meer von Gesichtern mit schreienden Mündern in das Metall der Rohrleitungen geritzt. Der Chor der verdammten Seelen. Darunter stand eine lateinische Inschrift, welche die Nonnen fotografiert hatten: Ad Maiorem Satanae Gloriam, zum höheren Ruhme
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