Das Evangelium nach Satan
zu, die sich in der Tiefe des Berges auftut … Ein Kreis von Kerzen. Irgendetwas befindet sich in dessen Mitte. Etwas, das …
»Hochwürden, erinnern Sie sich an das, was geschehen ist?«
»Ich weiß nicht … ich weiß nicht mehr …«
»Versuchen Sie es. Ich beschwöre Sie.«
Der Exorzist konzentriert sich. Das flackernde Licht der Kerzen. Ein Geruch nach Aas und Schwefel. Das Wesen, das einst Maluna war, steht aufrecht in der Mitte des Lichtkreises. Carzo zittert, als er spürt, wie die Schwärze dieser Kraft des Bösen seine Seele in sich aufsaugen will. Die Qual der Seele und der Tod Gottes. Da begreift er, dass sein Glaube gegen diese Schwärze nichts auszurichten vermag. Er tritt in den Lichtkreis, stellt sich vor das Geschöpf und atmet den entsetzlichen Gestank ein, der dessen Maul entströmt. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist die sonderbare Lähmung, die seinen Geist befallen hat. Dann geben die Beine unter ihm nach, und er fällt zu Füßen des Geschöpfs auf die Knie. Was danach war, ist auf alle Zeiten aus seiner Erinnerung getilgt. Nur noch Überreste von Bildern sind darin, einige Laute und Gerüche.
Carzo spürt, wie sich das Wasser unter dem Boden der Piroge bewegt. Es ist eine rasche, lebhafte und launische Strömung. Er öffnet die Augen. Über ihm weicht das Blätterdach auseinander, der Abstand zwischen den Ufern wird immer größer. Die Piroge hat das träge fließende, schlammige Wasser des igarapé hinter sich gelassen und treibt jetzt auf dem Rio Negro dahin. Am Bug ertönt ein Ausruf. Müde richtet sich Carzo auf und sieht in die Richtung, die Maturacas, ein Ureinwohner, weist. Durch den sich auflösenden Nebel erkennt er elende Hütten auf Pfählen und einen hölzernen Anleger. Dahinter öffnet sich eine Art Hafen, in dem rostige Frachtkähne auf ihre Ladung Kautschuk warten. Noch weiter in der Ferne erheben sich die Kuppeln der Stadt und der spitze Turm der Jesuitenkathedrale Nossa Senhora da Imaculada Conceição.
»Manaus! Manaus!«, schreit Maturacas und klatscht in die Hände.
Carzo lässt sich wieder auf den Rücken sinken und schließt die Augen.
2
Am internationalen Flughafen Stapelton von Denver
Dampfwölkchen steigen aus Marias Mund, als sie das Flugzeug verlässt. Die Kälte beißt ihr ins Gesicht. Der Wind treibt erste Schneeflocken vor sich her.
Am Mietwagenschalter legt sie die Kreditkarte vor, die ihr Crossman zur Verfügung gestellt hat, und mietet einen Cadillac Escalade, ein geländegängiges Ungeheuer von drei Tonnen mit überbreiten Reifen. Genau das Richtige für die verschneiten Straßen Colorados. Dann geht sie zum Parkplatz, auf dem in Reih und Glied Dutzende von Limousinen und Geländewagen bereitstehen.
Sie steigt ein. Kaum hat sie die Zündung eingeschaltet, als die Elektronik mit vernehmlichem Summen automatisch die Marias Statur entsprechende Pedal-und Sitzhöhe einstellt. Auch die Rückspiegel fahren von selbst in die richtige Position. Sie legt den Gurt an und startet den Sechs-Liter-V8-Motor. Dann verlässt sie den Flughafen über den Pefia Boulevard und nimmt die Interstate 70 Richtung Denver.
Die lange Nase, die ihr ein Mädchen durch das Heckfenster eines vor ihr fahrenden Toyota dreht, quittiert sie mit einem Lächeln. Sie ordnet sich rechts ein und regelt den Tempomaten auf achtzig Stundenkilometer. Berggipfel zeigen sich in der Ferne. Sie unterdrückt ein Gähnen und schaltet das Radio ein. Es ist auf einen Nachrichtensender eingestellt. Eine näselnde Stimme teilt mit: »Soeben ist eine Schneesturmwarnung eingegangen. Im Norden von Wyoming wie auch im Yellowstone-Nationalpark und am Fuß der Bighorn-Berge beträgt die Schneehöhe bereits vierzig Zentimeter. Angesichts der Windgeschwindigkeit rechnet man damit, dass das Tiefdruckgebiet in etwas weniger als vier Stunden die Bergkette von Laramie und die Grenze von Colorado erreichen und von dort nach Boulder und Denver weiterziehen wird. Es ist davon auszugehen, dass binnen Kurzem nicht nur die Gebirgspässe, sondern auch tiefer gelegene Straßen unbefahrbar sein werden.«
Der Ansager beendet die Meldung mit den üblichen Warnhinweisen und Empfehlungen. Maria schaltet das Radio aus. Eine Gnadenfrist von vier Stunden. Das müsste gerade reichen, um nach einem kurzen Aufenthalt im Büro des FBI von Denver das Kloster der Weltfernen Schwestern in Holy Cross zu erreichen. Für die Rückkehr allerdings genügt das nicht. Sie wird also das Ende des Schneesturms dort abwarten müssen.
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