Das Evangelium nach Satan
Tag eingetroffen, und sie hätten einander abgelöst, um bei der Todkranken zu wachen. Nachdem die alte Nonne kurz vor Morgengrauen gestorben war, seien die vier jungen Frauen schlagartig verschwunden. Da sich danach keine neuen Gesichtspunkte ergeben hätten, habe man den Fall zu den Akten genommen. Maria stößt einen tiefen Seufzer aus. Die drei anderen Nonnen hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, auf Sandy Clarks’ dringende Botschaft zu antworten und waren aus Botsuana, Namibia und Mosambik ihrer Mitschwester zu Hilfe geeilt, der es um ein Haar gelungen war, Kaleb zu stellen. Sie war nur um wenige Sekunden zu spät gekommen, doch diese kurze Zeitspanne hatte wieder eine Weltferne Schwester das Leben gekostet.
Den Notizen nach, die man in den Behausungen der Verschwundenen von Hattiesburg gefunden hatte, war die gekreuzigte Alte kurz vor Morgengrauen wieder zu Bewusstsein gekommen. Sie habe ihnen, hieß es, gerade noch mitteilen können, dass ein Mönch sie gekreuzigt habe, der an seinem Unterarm die Narben der Seelenräuber aufweise. Dann habe sie gesagt, der Schlund der Hölle stehe offen und die Heere des Untiers seien dabei, sich über die ganze Welt auszubreiten. Als sich Mary-Jane Barko daraufhin über sie gebeugt habe, um sie zu fragen, ob es Kaleb gelungen sei, etwas aus ihrer Zelle an sich zu bringen, habe die Alte sie zu erwürgen versucht. Die drei anderen hätten sich auf sie gestürzt, um sie zu bändigen, doch habe die verrückte Alte so sehr um sich geschlagen, dass sie ihnen dabei Knochenbrüche an Armen und Händen zufügte. Nachdem sie noch mit einer Stimme, die nicht die ihre gewesen sei, ein wüstes Geheul ausgestoßen habe, sei sie dann gestorben.
Maria schließt die Augen. Das war natürlich alles totaler Unsinn. Noch so eine verrückte alte Schachtel, von denen es in den Irrenanstalten nur so wimmelt! Mit Sicherheit hatte die Weltferne Schwester nie und nimmer die Heere Satans gesehen. Das war ganz und gar undenkbar.
Erneut wendet sie sich ihrer Lektüre zu. Nach Durban hatten die vier Frauen Kaleb die ganze Küste Südafrikas entlang verfolgt. Tausendsechshundert Kilometer bis hinab zum Kap, immer auf der Jagd nach einem Phantom, dessen Spuren sich nach und nach verloren wie Fußabdrücke im Sand.
Am 1 6. Oktober hatten sie die Stelle am südlichsten Punkt des afrikanischen Kontinents erreicht, wo der Indische Ozean auf den Atlantik trifft – eine riesige, wogende kalte Wasserwüste. Von einer Landzunge dort hatten die vier erschöpften jungen Frauen schweigsam zugesehen, wie ein Containerschiff, das gerade aus der Bucht ausgelaufen war, gegen die Strömungen kämpfte.
Dort, an der äußersten Spitze des schwarzen Kontinents, verlor sich Kalebs Spur im Nichts, und die vier Nonnen begriffen, dass sie die Schlacht verloren hatten.
Viertausend Kilometer weiter südlich lag die Antarktis mit ihren ewigen Eismassen. Nach Westen trennten achttausend Kilometer Ozean Afrika vom südamerikanischen Kontinent, und nach Osten gähnte ein vergleichbarer Abgrund bis zur Küste Australiens. An jenem Tag hatte Mary-Jane Barko in ihr Tagebuch geschrieben:
Möge sich Gott unser erbarmen
und uns vor dem großen Übel schützen,
das sich jetzt auszubreiten beginnt.
14
Aus dem Kabinenlautsprecher kommt die Mitteilung, dass die Maschine soeben die Grenze des Staates Nebraska überflogen hat. Die Außentemperatur sei rasch im Sinken begriffen, ein Hinweis auf einen bevorstehenden Schneesturm über den Rocky Mountains. Maria sieht von ihrer Akte auf und drückt das Gesicht erneut an die Scheibe. Jetzt breitet sich unter ihr eine endlose grüne Fläche aus, die bis zum Horizont reicht – die Great Plains. Die Flügel schimmern in der eiskalten Luft. Vor ihren Augen bildet sich eine feine Reifschicht auf dem Plexiglas, sodass sie sieht, wie die Landschaft nach und nach verschwimmt. Maria lauscht. Die Triebwerke haben aufgehört zu flüstern. Offenbar gibt der Pilot mehr Schub, um das Gewicht des Eises auszugleichen, das sich auf dem Rumpf bildet. Als Maria daran denkt, in welcher Kälte sie das abgelegene Kloster mitten in den Rockies wird aufsuchen müssen, verwünscht sie Crossman innerlich, bevor sie sich wieder in ihre Lektüre vertieft.
Nach dem Vorfall in Durban finden sich keine Hinweise mehr in den großen Tageszeitungen der Welt. Mary-Jane Barkos Tagebuch zufolge scheint die Jagd an der Südspitze Afrikas aufgehört zu haben, ausgerechnet am Kap der Guten Hoffnung. Doch weiten sich
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