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Das ewige Leben

Das ewige Leben

Titel: Das ewige Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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mehr gedacht hat. Er hat auf einmal ganz andere Sorgen gehabt. Er hat sich gefragt, ob er seinen Zitteranfall überleben wird. Und er hat sich gefragt, wie er, falls er den Zitteranfall überlebt, mit seinen Gummiknien aus dem Stadion hinauskommen soll. Und er hat sich gefragt, wo er, falls er mit seinen Gummiknien aus dem Stadion hinauskommt, überhaupt hin soll.
    Weil er hat sich überlegt, was für ihn gefährlicher ist. Wenn er sich nicht mehr in der Klinik blicken lässt, wird er spätestens morgen als Köck-Mörder gesucht. Und wenn er in die Klinik zurückgeht, wird er wahrscheinlich schon heute vom Köck-Mörder gesucht. Siehst du, da fällt dir auch keine dritte Möglichkeit ein. Weil Falle Hilfsausdruck.
     

5
    Nach zwei schlaflosen Nächten ist der Brenner dann endgültig aus Puntigam links verschwunden. Zuerst hat er im Fernsehraum noch einen Streit mit den anderen Patienten angefangen, damit sich alle erinnern, er war noch da, wie die Nachrichten schon den Stadion-Mord gebracht haben. Dann hat er sich auf den Weg gemacht. Im Krankenhaus haben sie sich nicht sehr gewundert, wie er auf einmal weg war, weil das musst du einmal schaffen, dass du sogar in einer Nervenklinik als Spinner giltst.
    Die Pistolenkugel war das Einzige, was er aus Puntigam links mitgenommen hat. Seine eigene, weil die vom Köck hat er ja wegen dem unangemeldeten Besucher nicht mehr erwischt. Es hat ihn so geärgert, dass seine Operation in letzter Sekunde schief gegangen ist, dass er auf einmal mehr Verständnis für die gekränkte Eitelkeit vom Professor Hofstätter gehabt hat, quasi von Chirurg zu Chirurg.
    Ohne den Professor Hofstätter hätte er sich ja den Eingriff gar nicht zugetraut. Wenn der dem Brenner nicht so genau am Röntgenbild gezeigt hätte, wo bei ihm die Kugel genau stecken geblieben ist, wäre er fachlich überhaupt nicht in der Lage gewesen.
    Bei seinem ersten Spaziergang am Mur-Ufer hat der Brenner die ganze Zeit an das Röntgenbild denken müssen. Weil damals ist ihm die Aufnahme von seinem Gehirn auf dem Leuchtkasten genau wie der Stadtplan von Graz vorgekommen. Und so wie in Graz die Mur schön von Nordwesten zwischen Andritz und Gösting hereinbricht, so ist auf dem Röntgenbild der Schusskanal zwischen dem Ohr und dem Aug vom Brenner hereingekommen. Und so wie die Mur weiterfließt und zuerst einmal zur Weinzödl-Brücke kommt, so ist der Schusskanal zur Schläfenader vom Brenner gekommen. Und so wie die Mur die Weinzödl-Brücke nicht mitreißt, sondern schön unten durch, so ist auch der Schusskanal elegant unter der Schläfenader durchgetaucht.
    Dann der Sehnerv, sprich Fußgängersteg, da hätte man glauben können, ein berühmter Brückenbaumeister hat den Sehnerv vom Brenner genau über den Schusskanal gespannt, so schön sind die beiden aneinander vorbeigekommen, keine Zerstörung, nur ein bisschen Rauschen und Spritzen, das ist nicht so schlimm. Dann weiter Richtung Zentrum, sprich Kalvarienbrücke, schön unten durch, nicht mitgerissen, keine Gesichtslähmung, und noch weiter hinein ist der Schusskanal auf dem Leuchtkasten gegangen, Keplerbrücke, und wieder dürfen beide leben, der Nerv bleibt stehen, der Schusskanal duckt sich wieder unten durch, Hauptbrücke gar kein Problem, Tegethoffbrücke sauber unten durch, und auf einmal, das musst du dir vorstellen, als würde die Mur mitten in Graz einfach anhalten, als würde sie dreißig Meter nach der Tegethoffbrücke, ungefähr bei der Bank, wo der Brenner zum ersten Mal am Mur-Ufer mit der Leni geschmust hat, einfach stehen bleiben wie das reinste rote Meer, dem der Moses von der Leni-Bank aus Stopp gedeutet hat, so ist der Schusskanal mitten im Brennerhirn einfach zwischen der Tegethoff-brücke und der Radetzkybrücke stehen geblieben.
    Und da hat der Köck wirklich Pech gehabt, das hat der Brenner sehr schön gesehen, während draußen schon der Schlüssel mit dem unerträglich feinen Geräusch in das Schloss gefahren ist. Beim Köck ist der Schusskanal höchstens um einen Zentimeter weiter gegangen als beim Brenner, wie wenn die Mur ihren Moses zu spät gehört oder ihre rote Ampel zu spät gesehen hätte und immer noch vor der nächsten Brücke, aber eben erst bei der nächsten Bank stehen geblieben wäre, wo der Brenner einmal mit der Waltraud geschmust hat, sprich winziger Unterschied, aber Unterschied zwischen Leben und Tod.
    Nur damit du verstehst, woher der Brenner das Fachwissen genommen hat, warum der anatomisch derart auf Draht war. Weil

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