Das fahle Pferd
Bande herum, die alle das Gleiche tun. Die Hälfte dieser Clique hat massenhaft Geld. Sie könnten sich alles leisten, was das Herz nur begehrt – könnten im Ritz wohnen, wenn sie Lust dazu hätten. Aber nein, das Leben, das sie führen, scheint ihnen Spaß zu machen. Mir unfassbar.«
»Demnach würden Sie sich anders verhalten.«
»Ah, das kann man wohl sagen!«, rief Luigi. »Aber wie es nun mal ist, muss ich von dem leben, was ich einnehme.«
Ich erhob mich und fragte, weshalb der Streit denn eigentlich ausgebrochen sei.
»Oh, Tommy hat sich den Freund von Lou angelacht. Dabei ist er es wahrhaftig nicht wert, dass man um ihn kämpft, der Typ.«
»Diese Lou ist anscheinend anderer Meinung«, bemerkte ich.
»Lou ist eine romantische Seele«, lachte Luigi gutmütig.
Dies entsprach zwar nicht meiner Vorstellung von Romantik, doch ich schwieg.
2
E s war etwa eine Woche später, als mir unter den Todesanzeigen in der Times ein Name auffiel:
TUCKERTON. Am 2. Oktober starb im Krankenhaus Fa l lowfield in Amberley Thomasina Ann Tuckerton im Alter von zwanzig Jahren, einzige Tochter des verstorbenen Thomas T u ckerton, Esq. von Carrington Park, Amberley, Grafschaft Su r rey. Stille Beisetzung. Keine Blumenspenden.
Nicht einmal Blumen für die arme Tommy Tucker… und keinen »Spaß« mehr am Leben in Chelsea. Ich fühlte plötzlich ein tiefes Mitgefühl für all die Tommy Tuckers unserer Zeit. Doch wie durfte ich mir das Recht anmaßen, ihr Leben als verschwendet anzusehen? Vielleicht war im Gegenteil mein Leben, mein ruhiges, um Bücher kreisendes Gelehrtenleben, verschwendet. Ein Leben aus zweiter Hand. Hatte ich jemals einen Spaß, kannte ich Vergnügen? Ein völlig abwegiger, unfassbarer Gedanke für mich! Natürlich lag mir gar nichts an solchen Späßen – aber war das auch richtig?
Ich schob den Gedanken an Tommy Tucker beiseite und wandte mich meinen Briefen zu.
Das wichtigste Schreiben kam von meiner Kusine Rhoda Despard, die mich um einen Gefallen bat. Ich klammerte mich daran, da ich an diesem Morgen ohnehin keine Lust verspürte, mich an meine Arbeit zu setzen. Und der Brief bot mir eine willkommene Entschuldigung.
Ich setzte also den Hut auf, ging rasch hinaus und winkte ein Taxi herbei, das mich zur Wohnung einer alten Freundin brachte, zu Mrs Ariadne Oliver.
Mrs Oliver ist eine sehr bekannte Verfasserin von Kriminalromanen. Ihr Mädchen Mildred behütete Haus und Herrin wie ein alter Drache vor dem Ansturm der profanen Welt.
Ich hob nur fragend meine Augenbrauen und Mildred nickte.
»Sie gehen am besten gleich hinauf, Mr Mark«, meinte sie. »Mrs Oliver ist scheußlicher Laune; vielleicht gelingt es Ihnen, sie etwas aufzuheitern.«
Ich stieg in den zweiten Stock empor, klopfte leise an eine Tür und trat ein, ohne auf Antwort zu warten. Mrs Olivers Arbeitszimmer ist ziemlich geräumig; die Wände sind tapeziert mit nistenden Vögeln in tropischem Laubwerk. Mrs Oliver selbst lief wie eine Halbirre im Zimmer hin und her und murmelte vor sich hin. Sie warf mir nur einen kurzen, gleichgültigen Blick zu und setzte ihre Wanderung fort. Ihr Blick irrte über die Wände, glitt zum Fenster, und dann schlossen sich ihre Augen wie in verzweifeltem Todeskampf. »Weshalb«, rief sie und richtete ihre Worte an das Weltall, »weshalb sagt denn dieser Idiot nicht sofort, dass er den Kakadu gesehen hat? Er muss ihn ja gesehen haben, es ist gar nicht anders möglich. Aber wenn er das sagt, ist der ganze Effekt futsch. Es muss doch einen Weg geben, es muss einen…«
Sie stöhnte, fuhr mit allen Fingern durch das kurze graue Haar und verkrallte sich darin. Dann sah sie mich plötzlich mit sehenden Augen an und rief: »Hallo, Mark – ich werde noch verrückt«, und fuhr mit ihren Klagen fort.
»Dann ist auch noch Monika da. Je netter und liebenswerter ich sie machen will, umso dümmer wird sie. Und spießig noch dazu. Monika… Monika… ich glaube, der Name passt nicht. Nancy? Wäre das besser? Oder Joan? Nein, jedermann hat eine Joan – langweilig. Mit Anne ist es nicht anders. Susan? Ich habe schon einmal eine Susan gehabt. Lucia? – Lucia? Lucia? Ja, eine Lucia kann ich sehen. Rote Haare. Pullover mit Rollkragen… schwarze enge Hosen? Schwarze Strümpfe auf jeden Fall.«
Diese zeitweilige Lösung des einen Problems wurde durch ein anderes wieder abgelöst: den Kakadu, und erneut nahm Mrs Oliver ihre rastlose Wanderung auf. Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie irgendetwas auf und
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