Das fahle Pferd
unwahrscheinlich. Er war ein beliebter Mann, im ganzen Distrikt hoch geschätzt. Keine Feinde, soweit wir in Erfahrung bringen konnten. Und auch Raub ist nicht sehr wahrscheinlich. Es sei denn…«
»Nun?«, erkundigte sich Dr. Corrigan. »Die Polizei hat also doch einen Hinweis, oder?«
»Er trug etwas bei sich, das der Verbrecher nicht gefunden hat – in seinem Stiefel, um genau zu sein.«
Dr. Corrigan stieß einen lauten Pfiff aus.
»Klingt wie eine Spionagegeschichte.«
Lejeune lächelte.
»Die Sache ist viel einfacher. Der Pfarrer hatte ein Loch in seiner Tasche; Sergeant Pine hat mit der Haushälterin gesprochen. Scheint etwas nachlässig zu sein, die gute Frau. Jedenfalls hat sie seine Anzüge nicht mit der nötigen Sorgfalt gepflegt. Sie gab selbst zu, dass Pater Gorman immer wieder Zettel und Briefe in seine Schuhe steckte, damit sie nicht durch die Löcher in den Taschen seiner Soutane fallen konnten.«
»Und davon wusste der Verbrecher natürlich nichts?«
»Sicher nicht – wem käme schon ein solcher Gedanke? Aber wissen wir, dass er wirklich diesen Zettel gesucht hat und nicht etwas anderes?«
»Was stand denn auf dem Papier?«
Lejeune zog eine Schreibtischlade heraus und entnahm ihr einen zerknitterten, verschmutzten Papierfetzen.
»Nur eine Liste mit Namen«, bemerkte er und schob ihn dem Arzt hin.
Corrigan betrachtete ihn neugierig.
Ormerod
Sandford
Parkinson
Hesketh-Dubois
Shaw
Harmondsworth
Tuckerton
Corrigan?
Delafontaine?
Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Ich sehe, da steht sogar mein Name auf der Liste«, bemerkte er.
»Sagt Ihnen irgendeiner dieser Namen etwas?«
»Kein einziger!«
»Und Sie haben auch Pater Gorman nicht gekannt?«
»Nein.«
»Dann werden Sie uns kaum helfen können.«
»Haben Sie denn schon eine Idee, was diese Liste bedeuten könnte?«
Lejeune gab keine direkte Antwort.
»Ein junger Bursche – vielmehr ein Kind – läutete abends gegen sieben Uhr bei Pater Gorman. Er erklärte, eine Frau liege im Sterben und verlange nach dem Priester. Pater Gorman ging mit ihm fort.«
»Wohin? Wissen Sie das?«
»Ja, das ließ sich leicht ermitteln. Benthall Street dreiundzwanzig, die Besitzerin ist eine Frau namens Coppins. Die Kranke hieß Mrs Davis. Der Priester kam etwa um Viertel nach sieben dort an und blieb eine halbe Stunde. Mrs Davis starb, kurz ehe die Ambulanz eintraf, die sie ins Krankenhaus überführen sollte.«
»Verstehe.«
»Das Nächste, was wir wieder von Pater Gorman hören, ist Folgendes: Er ist in ein kleines Café dort in der Nähe gegangen und hatte eine Tasse Kaffee bestellt. Das Lokal ist einfach, aber anständig, nichts Kriminelles dort zu finden. Anscheinend suchte der padre dort etwas in seiner Tasche, konnte es nicht finden und bat daraufhin die Kellnerin um ein Stück Papier. Dies…« Lejeune wies auf den Zettel, »dies hier gab man ihm.«
»Und was geschah dann?«
»Als er seinen Kaffee erhielt, war der Priester eifrig mit Schreiben beschäftigt. Kurz darauf verließ er das Lokal, nachdem er die Liste in den Schuh geschoben hatte – der Besitzer hat diese Bewegung bemerkt.«
»Waren noch andere Leute dort?«
»Drei junge, geschniegelte Bürschchen saßen an einem Tisch und kurz ehe Pater Gorman sich entfernte, kam ein älterer Mann herein und setzte sich in eine Ecke. Aber er ging gleich wieder fort, ohne etwas zu bestellen.«
»Er könnte also dem Priester gefolgt sein?«
»Möglich. Der Besitzer hat nicht darauf geachtet – weiß auch nicht genau, wie der Betreffende aussah. Er beschrieb ihn bloß als einen unauffälligen, respektabel aussehenden Mann – also ein Allerweltstyp. Ungefähr mittelgroß, trug blauen oder braunen Mantel. Nicht direkt dunkelhaarig, aber auch nicht blond. Vorläufig ahnen wir nicht, was er mit dem Pater zu tun haben könnte. Er hat sich auf unseren Zeugenaufruf hin nicht gemeldet, aber das will wenig besagen, er ist gerade erst durchgegeben worden. Wir haben darum ersucht, jedermann möge sich melden, der Pater Gorman zwischen Viertel vor und Viertel nach acht gesehen hat. Bis jetzt haben nur zwei Personen darauf reagiert: eine Frau und ein Apotheker, der sein Geschäft dort in der Nähe hat. Ich werde zu beiden hingehen und sie selbst befragen. Der Tote wurde um Viertel nach acht Uhr von zwei kleinen Jungen in der West Street entdeckt. Kennen Sie die Gegend? Es handelt sich eigentlich nur um einen schmalen Fußweg, auf der einen Seite begrenzt durch die Bahnschienen.
Weitere Kostenlose Bücher