Das fahle Pferd
Mythos von ›seltenen, unerkennbaren Giften‹. Dann sagte sie selbst: ›Dabei handelte es sich um ganz gewöhnliches weißes Arsenik und nichts anderes.‹ Dies hier ist ebenso einfach. Der ganze Hokuspokus mit Trance, geschlachteten Hähnen, Pentagrammen und Feuerschalen wurde für die Abergläubischen aufgebaut – und die berühmte ›Kiste‹ sollte den Aufgeklärten Sand in die Augen streuen. Wir glauben heute nicht mehr an Geister und Zaubersprüche, aber wir sind genauso einfältig, sobald es sich um ›Strahlen‹ handelt. Das ›Fahle Pferd‹ ist nichts anderes als fauler Zauber und nur dazu da, unsere Aufmerksamkeit von dem wirklichen Verbrechen abzulenken. Dabei konnten sich diese drei Weiber völlig sicher fühlen. Thyrza Grey mochte in der ganzen Welt ausposaunen, über welche okkulte Kräfte sie verfüge – niemals hätte man sie dafür vor Gericht stellen und verurteilen können, denn der ganze Klimbim war ja tatsächlich harmlos. Man hätte die Kiste untersucht… und nichts gefunden. Basta!«
»Glauben Sie, dass alle drei daran beteiligt waren?«, fragte Lejeune.
»Kaum. Ich würde sagen, dass Bella ernsthaft an ihre Zauberkunst glaubt. Sie ist stolz auf ihre Hexerei; ebenso Sybil. Diese besitzt tatsächlich gewisse mediale Kräfte; sie verfällt in Trance und weiß nicht, was um sie herum geschieht. Aber sie glaubt felsenfest an alles, was Thyrza ihr erzählt.«
»Demnach wäre Thyrza der Spiritus Rector?«
Nachdenklich meinte ich: »So weit es das ›Fahle Pferd‹ betrifft – ja. Aber der wahre Organisator ist sie nie und nimmer. Der arbeitet unerkannt hinter den Kulissen – der planende Kopf. Jeder der anderen Beteiligten hat seine bestimmte Aufgabe und weiß wahrscheinlich nicht einmal, was weiter geschieht. Bradley in Birmingham bearbeitet die finanzielle Seite, sonst nichts. Natürlich wird er sehr gut bezahlt, ebenso wie Thyrza Grey.«
»Sie scheinen bereits das ganze Rätsel zu Ihrer Zufriedenheit gelöst zu haben«, bemerkte Lejeune trocken.
»Nein, noch nicht. Wir wissen nur die grundlegenden Tatsachen, die nackten, einfachen: Gift, der gute alte Todestrank.«
»Wie kamen Sie eigentlich auf Thallium?«
»Verschiedene Dinge kamen auf einmal zusammen. Für mich war der eigentliche Beginn jener Abend in Chelsea. Einer jungen Frau wurden die Haare büschelweise ausgerissen und sie behauptete ganz nüchtern, nichts gespürt zu haben. Das war nicht Tapferkeit, wie ich damals annahm, sondern die reine Wahrheit; sie spürte es kaum.
Ich hatte früher einmal einen Artikel über Thalliumvergiftungen gelesen, als ich in Amerika war. In einer Fabrik starb ein Arbeiter nach dem andern und ihr Tod wurde auf die verschiedensten natürlichen Ursachen zurückgeführt: Paratyphus, Darmverstimmung, Gehirntumor und was weiß ich nicht noch alles. Die Symptome variierten sehr stark – aber eines geschah in sämtlichen Fällen: Die Haare fielen aus. Thallium wurde früher tatsächlich als Enthaarungsmittel verwendet, besonders bei Kindern, die Scherpilzflechten hatten. Dann aber fand man heraus, dass es gefährlich war. Gelegentlich wird es noch verabreicht, aber nur in ganz minimalen Dosen. Meistens aber wird es nur noch gegen Ratten eingesetzt. Es ist leicht löslich, geruchlos und ohne Schwierigkeiten zu kaufen.«
»Sie reden ja wie ein medizinisches Wörterbuch.«
»Ich habe auch alles darüber gelesen. Nur ein Punkt muss natürlich genau beachtet werden. Es darf kein Verdacht auf Gift entstehen.«
Lejeune nickte.
»Klar. Daher dringt Bradley darauf, dass der Auftraggeber nicht in die Nähe des Opfers kommt. Damit fällt jeder eventuelle Verdacht in sich zusammen. Der Erbe – oder Gatte, oder wer es auch sei – lebt weit entfernt von der Person, die ihm im Wege steht; er hat keine Möglichkeit, ihr etwas in die Speisen oder Getränke zu mischen. Es kann ihm auch kein Kauf von Thallium nachgewiesen werden – denn er besorgt die schmutzige Arbeit ja nicht selbst. Der eigentliche Täter jedoch hat mit dem Opfer überhaupt nichts zu tun. Er wird nur ein einziges Mal dort auftauchen und dann nie wieder.«
Er unterbrach sich.
»Haben Sie sich auch darüber schon eine Meinung gebildet?«
»Nur eine Vermutung. Es gibt in allen Fällen einen gemeinsamen Faktor: Eine völlig harmlos erscheinende Frau taucht auf mit dem Ausweis eines Marktforschungsinstituts und stellt die üblichen Fragen – welche Waschmittel, Kosmetika, Bohnerwachs verwendet werden… nun, wie das heute so üblich
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