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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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da.
    »Euphemia!« rief er.
    Sie wandte sich um, sie stand sofort auf, sie kam zu ihm. Sie legte die Arme um seinen Hals, rieb ihre Wange an der seinen und sagte: »Nicht küssen! Nicht küssen!« Sie ließ ihn wieder los. »Es ist traurig, du!« sagte sie. Ihre Arme hingen schlaff am Körper, zwei verwundete Flügel. Sie erschien Eibenschütz jetzt überhaupt wie ein großer, schöner, verwundeter Vogel. Er wollte ihr sagen, sie sei ihm das Teuerste auf der Welt und er wolle für sie sterben. Aber er sagte nur, gegen seinen Willen: »Ich fürchte nicht die Cholera! Ich fürchte nicht die Cholera!« Und dabei hatte er so viel schöne, zärtliche Worte im Herzen für Euphemia. Aber die Zunge gehorchte nicht. Die Zunge gehorchte nicht.
    Er fühlte plötzlich, daß ihm schwindelte, und er lehnte sich gegen die Tür. In diesem Augenblick wurde sie aufgestoßen, und Eibenschütz fiel nieder. Er wußte alles, was vorging. Er sah genau, wie Sameschkin eintrat, zuerst eine Sekunde erstaunt stehenblieb, dann hörte er, wie Sameschkin mit seiner fröhlich grölenden Stimme fragte: »Was macht er hier?« und wie Euphemia antwortete: »Du siehst ja! Er hat sich geirrt, er ist besoffen.«
    Ich bin also besoffen, dachte der Eichmeister Eibenschütz. Er fühlte sich unter den Armen angefaßt, Sameschkin war es sicher nicht, es waren starke Arme, und zur Tür, die noch halb offenstand, hinausgeschleppt. Er fühlte, wie man ihn wieder losließ, und er hörte noch deutlich, daß ihm Sameschkin eine gute Nacht wünschte.
    Das ist wahrhaftig eine gute Nacht, dachte er. Und er schlief ein, wie ein Hund, quer vor der Tür der geliebten Euphemia, neben den Stiefeln Sameschkins.

XXX
    Am Morgen, sehr früh, weckte ihn der Diener Onufrij. Er hatte einen Brief für den Eichmeister, einen Brief mit einem Amtsstempel. Der Eichmeister Eibenschütz erhob sich, zerschlagen und müde, wie er war, von der harten, kalten Diele. Er schämte sich ein wenig vor dem Diener Onufrij, weil er hier, vor der Schwelle Euphemias, geschlafen hatte. Er erhob sich und las den Brief mit dem Amtsstempel. Dieser Brief war vom Bezirksarzt Doktor Kiniower abgesandt und enthielt folgenden Text:
    »Sehr geehrter Herr Eichmeister, pflichtgemäß teile ich Ihnen mit, daß Ihr Kind gestern abend gestorben ist. Ihre Frau ist in Lebensgefahr. Sie wird, meiner Meinung nach, die folgende Nacht nicht mehr überstehen.
    Hochachtungsvoll Doktor Kiniower«
    Der Brief war kaum leserlich, auf einem Rezeptblatt geschrieben, in hastiger, medizinischer Schrift. Dennoch erschütterte sie den Eichmeister Eibenschütz.
    Er ließ einspannen, er fuhr nach Hause.
    Er fand seine Frau im Bett, in dem gleichen Bett, in dem er mit ihr immer geschlafen hatte. Jetzt war es von Medizinen aller Art umstellt, und es roch nach Kampfer, betäubend und erschütternd. Sie erkannte ihn sofort. Sie war vollkommen verändert. Sie sah bläulich aus, ihre Lippen waren beinahe violett. Er erinnerte sich genau an diese Lippen, als sie noch rot gewesen waren wie Kirschen, und daß sie ihn geküßt hatten. Er fürchtete sich nicht vor der Krankheit. Was brauchte er den Tod zu fürchten? Seine Frau selbst hatte Angst, ihm die Hand zu geben, eine kraftlose, gelbe Hand, ein paarmal streckte sie sich ihm entgegen, als hätte sie keinen eigenen Willen. Einmal sagte die Frau, offenbar mit großer und letzter Kraft: »Mann, ich habe dich immer geliebt. Muß ich sterben?« Es erschütterte den Eichmeister Eibenschütz, daß sie ihn nicht beim Vornamen, sondern nur »Mann« nannte. Er wußte auch nicht, weshalb es ihn so ergriff.
    Das tote Kind war längst hinausgebracht worden, die Frau wußte nicht einmal, daß es gestorben war. Die Nonne saß reglos am Fußende des Bettes, den Rosenkranz mit dem Kreuz in der Hand. Sie war still wie ein Heiligenbild, nur ihre Lippen bewegten sich, und von Zeit zu Zeit hob sie die Hand und schlug das Kreuz. Am Kopfende saß Eibenschütz. Er beneidete die Nonne um ihre Unbeweglichkeit. Er mußte immer wieder aufstehen und ein paar Schritte machen und zum Fenster gehen und in die Trübsal des Regens hinausblicken. Er hätte gern seiner Frau etwas Gutes tun wollen. Musik machen zum Beispiel. Als Knabe hatte er einmal Geige gespielt. Manchmal ging ein Schüttern durch den Körper der Sterbenden. Das ganze breite Bett schüttelte und quietschte. Manchmal erhob sie sich steil, wie eine tote Kerze sah sie aus in der glatten weißen Jacke. Bald fiel sie wieder zurück, wie eine umgestürzte Sache

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