1230 - Der Traumdieb
Sheila blieb so abrupt stehen, als wäre sie gegen das Gitter des Tors gelaufen. Die Schreie bildete sie sich nicht ein. Sie waren schrecklich. In der Stille klangen sie noch lauter, und sie schienen von allen Richtungen auf sie zuzudrängen.
Obwohl Sheila Conolly selbst nicht bedroht wurde, fühlte sie sich eingekesselt und umklammert. Die Schreie glichen einem akustischen Karussell, das sich immer wieder um die eigene Achse drehte und Sheila in den Mittelpunkt stellte. Sie fand auch nicht heraus, ob ein Mann oder eine Frau geschrien hatte.
Anscheinend war sie die Einzige, die die Laute überhaupt vernommen hatte, denn aus den anderen Häusern kam niemand auf die Straße, um nachzuschauen. Entweder lagen die Bewo hner allesamt in tiefen Träumen versunken oder sie wollten sich bewusst nicht um die Schreie kümmern, die plötzlich nicht mehr vorhanden waren.
Sheila Conolly stellte erst nach einigen Sekunden fest, dass es wieder still geworden war.
Niemand befand sich mehr im Freien. Die Zeiger der Uhr zeigten kurz vor Mitternacht an, und die Wohngegend lag in einen tiefen Schlaf eingehüllt.
Sheilas Blicke wanderten wieder durch den Vorgarten. Erste Dunstschleier trieben an den Lampen vorbei. Es war zudem schon sehr kalt geworden, denn der Herbst hatte seine Arme bereits sehr früh nach dem Land ausgestreckt. Noch hing das Laub an den Bäumen, aber es würde nicht lange dauern, bis die ersten Stürme die Blätter abgerissen und verweht hatten.
Sie hatte die Schreie gehört. Daran gab es nichts zu rütteln.
Und sie wusste auch, dass sie von einer Person abgegeben worden waren und nicht von mehreren. Die Laute hatten die Stille brutal zerrissen, und Sheila versuchte, sich die Geräusche wieder ins Gedächtnis zu rufen, um möglicherweise herauszufinden, was sie wohl hätten bedeuten können.
Sie wusste ja, dass es verschiedene Arten von Schreien gab.
Den freudigen Schrei, den ängstlichen, den überraschten, das alles war möglich, zudem noch mit irgendwelchen Zwischentönen versehen, aber die Schreie in dieser Nacht waren einfach nur schlimm und schrecklich gewesen, als hätte sich ein Mensch in sehr großer Not befunden. Einer, der durch einen anderen bedroht worden war, und bei dem es um Leben und Tod ging. Dann waren die Schreie plötzlich wieder verstummt.
Wenn Sheila daran dachte, bekam sie eine neue Gänsehaut, denn sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass dies durch ein äußeres Ereignis der Fall gewesen war, und das konnte auch mit dem Wort gewaltsam umschrieben werden.
Auch die Temperatur war gefallen. Unter zehn Grad. Und das im September. Einem Monat, in dem der Sommer ansonsten noch einmal bewies, wozu er in der Lage war und den Menschen sogar Badewetter beschert hatte. In diesem Jahr war alles anders. Da war der Herbst fast überfallartig gekommen und hatte die Menschen aus ihren spätsommerlichen Träumen gerissen.
Sheila Conolly wünschte es sich nicht, aber sie wartete darauf, dass sich die Schreie wiederholten und sie herausfinden konnte, aus welcher Richtung sie an ihre Ohren gedrungen waren. Da war mehr der Wunsch der Vater des Gedankens, denn es wiederholte sich kein Schrei. Die Stille blieb, die Kälte auch, und trotzdem verspürte sie irgendwo die Gewissheit, dass dies nicht alles gewesen sein konnte. Da steckte einfach mehr dahinter. Das spürte Sheila, und sie dachte natürlich sofort an ein Verbrechen. Dass jemand Angst gehabt hatte und umgebracht worden war. Die Schreie waren die letzten Äußerungen in seinem Leben gewesen. Danach war dann nichts mehr gekommen.
Sheila und ihre Freundin waren gemeinsam Essen gewesen.
Später hatten sie sich regelrecht verquatscht, deshalb war es auch so spät geworden. Bill, ihr Mann, lag sicherlich im Bett und schlief oder hockte in seinem Zimmer und arbeitete noch.
Sheila wollte mit ihm sprechen. Es konnte ja sein, dass er eine Idee hatte, wie man sich am besten verhielt. Sheila wollte die nächtlichen Schreie nicht auf sich beruhen lassen. »Sheila…?«
Mit einem leisen Schrei auf den Lippen fuhr sie herum, als sie die Stimme aus den Sprechrillen hörte. Sie klang etwas verfremdet, dennoch hatte sie die Stimme ihres Mannes erkannt. »Bill…«
»He, was ist los mit dir?«
»Du musst kommen.«
»Ja, aber…«
»Das erzähle ich dir alles später. Ich stehe vor dem Haus und brauche deinen Rat.«
»Das sehe ich auf dem Monitor. Ich habe mich schon gewundert, weil du so lange weggeblieben bist.«
»Bitte, Bill, ich warte.«
»Keine
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