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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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ja, er haßte den Morgen. Übrigens kamen die Leute, die Maroni kaufen wollten, erst am Nachmittag. Was sollte Sameschkin am frühen Morgen? Er liebte nun einmal keinen frühen Morgen.
    Dennoch erwartete Eibenschütz auch ihn geduldig. Es tat dem Eibenschütz wohl, in der Nähe Sameschkins zu sein. Er begann sogar, Sameschkin zu lieben. Immerhin hatte Sameschkin noch etwas von der süßen, süßen Wärme Euphemias. Und es war so kalt in diesem Winter! – Und er war so einsam, der Eichmeister Eibenschütz!
    Er war so einsam, der Eichmeister Eibenschütz, daß er manchmal vor das große, rostbraune Tor der Schenke trat und sich neben Sameschkin, den Maronibrater, stellte, ungeachtet seiner Stellung und seines Amtes. Es kamen verschiedene Leute Kastanien kaufen, rohe und gebratene, und manchmal ließ sich der Eichmeister Eibenschütz sogar herbei, den Leuten die Maroni zu verkaufen, während der Zeit, in der Sameschkin ausgetreten war. Sehr lieb wurde ihm Sameschkin mit der Zeit. Er verstand nicht recht, warum, aber Sameschkin wurde ihm eben lieb.
    Mit der Zeit begann er ihn zu lieben, wie man einen Bruder liebt.

XXIX
    Es ging alles gut, oder halbwegs gut, bis zu jenem Tage, an dem das Unwahrscheinliche geschah. Es war nämlich so, als ob der Winter plötzlich aufgehört hätte, ein Winter zu sein. Er hatte einfach beschlossen, kein Winter mehr zu sein. Mit Entsetzen hörten die Einwohner des Bezirks das Eis über der Struminka krachen, kaum eine Woche nach Weihnachten. Laut einer alten Sage, die in der Gegend umging, bedeutete dieses Krachen des Eises ein großes Unglück für den kommenden Sommer. Alle Menschen waren sehr erschrocken, und mit verstörten Gesichtern gingen sie einher.
    Nun, sie hatten recht. Die alte Sage hatte recht. Es begann nämlich, ein paar Tage nach dem Krachen des Eises, eine fürchterliche Krankheit in der Stadt zu wüten, eine Krankheit, die sonst nur in heißen Sommern aufzutreten pflegte: Es war die Cholera.
    Es taute an allen Enden und Ecken, man hätte sagen können, der Frühling sei schon gekommen. In den Nächten regnete es. Es regnete sachte und gleichmäßig, es sah aus wie ein Trost des Himmels, aber es war ein falscher Trost des Himmels. Schnell starben die Menschen dahin, kaum waren sie drei Tage krank gewesen. Die Ärzte sagten, es sei die Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten, es wäre die Pest. Es ist aber auch gleichgültig, was für eine Krankheit es war. Jedenfalls starben die Leute.
    Als das Sterben gar kein Ende mehr nehmen wollte, begann die Statthalterei, viele Ärzte und Medikamente nach dem Bezirk Zlotogrod zu schicken.
    Es gab aber viele, die sagten, Ärzte und Medikamente würden höchstens schaden und die Verordnungen der Statthalterei seien noch schlimmer als die Pest. Das beste Mittel, sich das Leben zu bewahren, so sagten sie –, sei der Alkohol. Es begann also ein gewaltiges Trinken. Gar viele Leute, die man sonst dort nicht gesehen hatte, kamen jetzt nach Szwaby in die Grenzschenke.
    Auch der Eichmeister Eibenschütz begann, in unmäßiger Weise zu trinken. Und zwar nicht so sehr deshalb, weil er die Krankheit und den Tod fürchtete, sondern weil ihm die allgemein gewordene Sucht zu trinken sehr gelegen war. Es lag ihm keineswegs daran, der großen Seuche zu entgehen, sondern vielmehr seinem eigenen Leid. Ja, man könnte sagen, daß er geradezu die Seuche begrüßte. Denn sie bot ihm Gelegenheit, seinen eigenen Schmerz zu mildern, und ihm schien es, er sei so riesengroß, wie es keine Seuche sein könne. Er sehnte sich eigentlich nach dem Tode. Die Vorstellung, daß er eines der vielen Opfer der Cholera werden könnte, war ihm sehr angenehm, ja sogar vertraut. Aber wie den Tod erwarten, wenn man nicht wußte, ob er wirklich kommen würde, ohne sich zu betäuben?
    Also trank der Eichmeister Eibenschütz.
    Alle, die noch am Leben blieben, ergaben sich dem Schnaps, von den Deserteuren nicht zu reden. Drei Gläubiger Jadlowkers hatte die Cholera schon dahingerafft, und übrig blieb nur der kleine Kapturak, der unverwüstliche Kapturak. Auch er trank, sein gelbes, zerknittertes Gesicht rötete sich nicht, nichts konnte ihm etwas anhaben, weder die Bazillen noch der Spiritus. Freilich starben nicht alle, aber viele lagen krank darnieder.
    In der Grenzschenke spielten nur noch der Eichmeister, der Gendarm Slama, der Gauner Kapturak und der Maronihändler Sameschkin. Man konnte ihn überhaupt kaum noch einen Maronihändler nennen. Er verkaufte nämlich

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