Das Festmahl des John Saturnall
sie dann?«
»Gott öffnet dir die Augen. Wenn du auserwählt bist. Die Hexe kann Gott nicht täuschen. Sie kann sich verstecken, wo sie will.« Plötzlich beugte sie sich vertraulich zu ihm. Er spürte ihren warmen Atem in seinem Ohr. »Du gehst da oben rauf, stimmt’s?«
Sie blickte hoch, und John folgte ihrem Blick. Gemeinsam sahen sie den Abhang hinauf, bis zu der dunklen Linie der Bäume auf dem Kamm.
»Das kann man nicht«, sagte er. »Es ist voller Dornengestrüpp.«
»Einer Hexe macht das nichts aus«, antwortete Cassie. »Hexen bluten nicht, hast du das vergessen?«
Das waren Marpots Lehren, das wusste er. Wenn Cassie nicht Psalmen sang, kniete sie zusammen mit den anderen Bibelschülern im Haus des Aufsehers.
»Ich habe hier oben gebetet«, sagte sie. Sie sah zu den Buchen hinüber und lächelte dann John an. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
John starrte zurück. »Ich, warum ich?«
»Gott hat es mir gesagt.«
Cassie lächelte; dann stand sie auf und schürzte ihr Kleid, bereit, die Böschung hinunterzulaufen. John sah zu ihren aufgeschürften Knien und ihren nackten weißen Beinen hoch.
»Du glotzt.«
Er spürte, wie seine Wangen sich röteten. »Was hat er dir gesagt?«
»Willst du es wissen?«, fragte sie. »Willst du wissen, was Gott gesagt hat?«
Er blickte erwartungsvoll auf.
»Nächste Woche«, beschied ihn Cassie. »Warte nach dem Gottesdienst auf mich.«
Der Duft welkender Blätter hing in der stickigen warmen Luft der Hütte. Als John zur Tür hineinschlüpfte, hob seine Mutter den Blick, ihr Gesicht rot vom Schimmer des schwelenden Feuers. Der geschwärzte Kessel hing an seiner Kette über dem Herdfeuer und dampfte.
»Hast du den langen Weg nach Hause genommen?«, fragte sie.
John nickte und huschte an ihr vorbei. Die Beule an seinem Kopf hatte nicht wehgetan, solange er bei Cassie gesessen hatte. Nun pochte sie schmerzlich, und seine Kehle war rau. Er setzte sich auf der anderen Seite des Feuers und ließ den Blick durch die Hütte wandern. In der Ecke hinten stand ihre Truhe neben dem Strohsack, auf dem sie schliefen. Auf der anderen Seite waren die Flaschen seiner Mutter aufgereiht. Töpfe und Pfannen hingen um den Herd, und auf dem Sims darüber lehnte ein aufgeschlagenes großes ledergebundenes Buch.
John kannte die Seiten von verstohlenen Blicken: die Abbildungen von Bäumen, Blumen, Wurzeln und Blättern, die Blöcke abweisend aussehender Schrift. Nähere Beschäftigung damit war ihm nicht erlaubt. Seine Mutter legte das Buch weg, wenn die Frauen zu ihr kamen. Und nun, als sie Johns Blick sah, hob sie die Hand, um es zuzuschlagen.
Sie war oben am Hang gewesen, das wusste er. Prallgefüllt lehnte ihre Sammeltasche an der Wand. Er atmete behutsam ein und roch die Früchte ihrer letzten Mühen: frischen Holunder, Bilsenkraut, Taubnessel und Mönchspfeffer ... alles vertraut. Aber darunter verbarg sich ein fremder Geruch, der durch das grobe Sackleinen drang und John mit seinem blumigen Duft vor ein Rätsel stellte. Geistesabwesend hob er die Hand, um die Beule an seinem Kopf zu betasten.
»Sie haben dich wieder geschlagen, nicht wahr?«
Sie wusste es immer. Er blickte auf und sah, dass sie ihn musterte, und er schüttelte stumm den Kopf, wappnete sich gegen das Ausfragen. Doch als er sich unter ihrem Blick duckte, stieg eine dicke Rauchwolke auf, und seine Mutter begann zu husten. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um das Gebräu im Kessel zu schützen, und suchte mit der anderen Hand Halt am Herd, während Hustenkrämpfe sie schüttelten. John ergriff den Krug und lief nach draußen.
Sie war über dreißig. »Mutter Susan« nannten sie jene, die nächtens zur Hütte kamen. Oder »gute Fee Susan«, wenn die Frauen aus den hinteren Kirchenbänken sie weckten. Früher waren sie tagsüber gekommen, hatten ihr Brotlaibe für ihre Rezepte gegeben, Gerste für ihre Ratschläge angeboten oder mit einer schmierigen Münze bezahlt, wenn sie ihren Umhang überwarf und mit ihnen ging. Wenn sie nichts anderes zu bieten hatten, begnügte sie sich mit Versprechen. Nun schlichen sie nach Einbruch der Nacht mit ihren Gaben den Weg entlang und klopften leise an die Tür. John sah die besorgte Miene der Eintretenden. Dann begann das geflüsterte Gespräch: über Schmerzen und Blutungen und Krämpfe, über austretendes Fruchtwasser oder das Ausbleiben des Austretens, über Kinder im Mutterleib, die sich drehten oder verdrehten,
über das Amnion, das zu dünn oder zu dick
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