Das Feuer das am Nächsten liegt
losgebunden an der Reling und trugen unsere grauen Beutel mit unserer persönlichen Habe, die wir um unsere Hüften geschlungen hatten – sie werden im Knastjargon „Mütter“ genannt, und dieses Wort ist in diesem Zusammenhang höchst unflätig. Zu meinem großen Erstaunen stellte Len sich neben mich. Er war mürrisch und verlegen; ich überlegte mir, ob der Segelmeister ihn dazu gebracht hatte, mit mir zu reden, aber ich glaube, es war seine eigene Erinnerung an Horns Haus. Er zeigte zu dem Fischhäutungsschuppen direkt unten am Kai. Arbeiter hackten Brocken aus irgendeiner weißlichen Masse. Plötzlich erblickte ich Gräten …
„Großes Feuer!“ flüsterte ich. „Ist das ein Seesonner, den sie getötet haben?“
„Die Winde mögen uns behüten“, sagte Len. „Es sind heilige Tiere. Das ist ein Zoben, eine große Fischart.“
An der Reling unterhielten wir uns eine Weile ruhig und ganz natürlich. Ich konnte kaum glauben, das es Len war und daß ich so viele Jahre gelebt hatte, seit er Horns Haus verlassen hatte. Aber es war Len, er hatte sich kaum geändert: er war immer noch ein stolzes, prahlerisches Kind.
Ich schien viel älter geworden zu sein.
Ehe wir uns trennten, steckte er mir ein in ein Quadrat aus brauner eingeölter Seide gewickeltes Päckchen zu.
„Versteck das gut“, sagte er. „Vielleicht in deinem Stiefel. Du kannst damit mehr einhandeln als mit Silberstücken. Es ist braune Rinde, ‚Schmack’.“
Schmack war kostbar. Es ist eine Würze, die den Geschmack von Speisen erhöht und die Schmackesser etwas berauscht. Ich dankte Len so herzlich, wie ich konnte. Das Schiff hatte angelegt; ich betrat Itsik und blickte mich nicht um, um Len oder dem Seilmeister zum Abschied zu winken.
Der Kai hatte sich belebt; Hafenarbeiter luden Tierhäute und Talg auf das Salzschiff. Ich war wieder überrascht, diesmal über die Kleidung der Hafenarbeiter. Sie waren alle kräftig und hatten den mürrischen Blick Gefangener, aber ihre Kleidung bot den Anblick verschlissener Pracht: es waren die abgelegten Gewänder der Granden. Clan-Farben – das Grün der Wentroys, das Karmesinrot der Galtroys – leuchteten auf ihren gestreiften Umhängen; einige trugen zerzauste Perücken aus unechtem Haar oder pelzverbrämte Lederwämse.
Ein Wächter, der ein altes Pentroy-Banner über seinem Umhang trug, nahm uns in Empfang und führte uns zum Abspritzen. Im Ankunftslager waren noch mehr von diesen bunten Gewändern, sauber und aus einem solchen Gewebe, wie ich es nur selten gesehen hatte, aber ich behielt mein eigenes Grau und wurde als Tsagul-Gefangene gekennzeichnet.
Grapscher hatte sich von der Fahrt völlig erholt. In dem Augenblick, in dem die Krankenhausmannschaft eintraf, um uns zu untersuchen, bekam er einen Anfall und klammerte sich an einen Kleiderständer. Die Rote und ich wichen zurück, als die Wärter versuchten, ihn davon wegzuzerren. Eine scharfe quäkende Stimme erklang.
„Hört damit auf, ihr Narren! Laßt ihn los!“
Ein außergewöhnliches Wesen erschien: ein weibliches, kleines, drahtiges Wesen mit langen zusammengeschnürten Strähnen schmutzig-weißen Haars. Sie trug ein altes, geschlitztes, bis zu ihren dürren Waden geschürztes Gewand, und ihr geflickter halblanger Umhang war mit Kräuterbüscheln, Griffen, Scheren und Muschelmessern gespickt. Ich erkannte das Braun der Dohtroys, unserer eigenen örtlichen Granden, und das Wappen der Dohtroys, Blume und Kürbis, war auf ihr abgetragenes Brustschild gestickt.
„Wer ist das, um des Feuers willen?“ flüsterte ich Der Roten zu.
„Die Forgan von Itsik, unsere Heilerin“, sagte Die Rote. „Das ist Gwell Nu – die wahnsinnige Gwell …“
Gwell Nu trat zu dem armen Grapscher und untersuchte ihn kurz. Sie zog ein Muschelmesser aus ihrem Gürtel, und ich sah, wie sie einen Kratzer auf seinem Arm machte – was er gar nicht bemerkte – und irgendeine Salbe hineinrieb. In wenigen Herzschlägen war Grapscher fest eingeschlafen. Ich betrachtete die Heilerin mit Achtung. Wenn Gwell wahnsinnig war, so war es eine Art Wahnsinn, die wie Vernunft wirkte.
Sie freute sich über die Neuankömmlinge aus Tsagul und begrüßte Die Rote wie eine alte Freundin.
„Wer ist denn das? Kitz? Yolo Horn?“ gackerte sie, als ich an die Reihe kam. „Du kannst dich nennen, wie du willst, meine Liebe. Es freut mich immer, kräftige junge Arbeiterinnen aus der Feuerstadt zu sehen. Wie geht es dem guten Orn Margan Dohtroy? Friede sei dem Haus eines
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