Das Feuer des Daemons
»Das macht kleine Leute zu traurig.«
Chloe sagte eindringlich: »Es macht auch große Mädchen zu traurig.«
»Definitiv«, sagte Khalil. Er streckte die Hand aus, und Chloe legte ihre hinein.
Chloe ist so klein,
dachte Grace und musste sich auf die Lippe beißen. So zerbrechlich, so kostbar. Ihre Muskeln waren so verspannt, dass sie wieder zu schmerzen begannen.
Der Dschinn führte die Finger des Mädchens an seine Lippen und küsste sie. Dann ließ er sie los und richtete sich zu voller Größe auf, bevor er verschwand.
Grace starrte Chloe an und suchte nach irgendeiner Reaktion auf das plötzliche Verschwinden des Dschinns. Aber abgesehen davon, dass sie mit den Fingern wackelte, die Khalil geküsst hatte, und äußerst nachdenklich dreinblickte, schien es keine zu geben. Vielleicht konzentrierte sich Chloe auf den Versuch, ebenfalls zu verschwinden, und musste feststellen, dass sie auch das nicht konnte.
Im Kinderzimmer schrie Max vor Wut. Normalerweise war er ein fröhliches Kind, aber jetzt hatte er es offenbar ziemlich satt, vernachlässigt zu werden.
Grace seufzte und ging den Flur hinunter, um den kleinen Mann aufzusammeln. Chloe hatte ihre Brezeln als Zwischenmahlzeit gehabt, aber sie und Max hatten das Mittagessen verpasst. Er musste am Verhungern sein. Dass es bei ihr so war, wusste sie. Sie wechselte Max die Windel und kitzelte ihn, bis seine schlechte Laune vertrieben war und er wieder strampelte und kicherte. Dann setzte sie ihn auf die gesunde Seite ihrer Hüfte und wandte sich zu Chloe um, die ihr ins Kinderzimmer gefolgt war.
»Meinst du, es ist Zeit, dass wir zu Abend essen?«, fragte sie.
Chloe dachte gründlich über diesen Vorschlag nach. »Definitiv.«
Zum Abendessen machte Grace Makkaroni mit Käse. Chloe mochte Makkaroni mit Käse. Janice zufolge hatte sie ihr Frühstück kaum angerührt, und davon abgesehen hatte sie bisher nur Brezeln gegessen.
Chloe mochte auch Apfelmus, und Max ebenso.
Was soll’s,
dachte Grace.
Sind wir mal ganz verrückt und schmeißen alles durcheinander. Dann gibt es heute Abend eben Apfelmus statt Gemüse.
Als sie das Glas Apfelmus aus dem Kühlschrank holte, bekam sie einen Zitteranfall. Sie ließ das Glas auf der Anrichte stehen und setzte sich an den Tisch; ihre Glieder schlotterten, als hätte sie Schüttelfrost.
Im Wohnzimmer tanzte und sang Chloe zu einer Disney- DVD . Der Name des Films fiel Grace nicht mehr ein. Es war mal wieder eine Geschichte über eine beherzte Prinzessin und den unvermeidlichen Sidekick. Max saß zufrieden auf dem Küchenfußboden und kaute fröhlich auf seinem weichen Plastikkinderbuch herum. Grace rieb sich die Stirn, während sie ihm dabei zusah. Offenbar würden die Nachwirkungen der Ereignisse nun doch einsetzen, bevor die Kinder im Bett waren, ob sie wollte oder nicht.
Das Töten.
Für Grace hatten die Ereignisse, die zum Eintreffen des Dschinns führten, eigentlich mit Max’ Ohrenentzündung begonnen. Gestern war er knatschig geworden, was sich von seiner üblichen fröhlichen Art so sehr unterschied, dass Grace ihn genauer beobachtet hatte.
Es war immer schlimmer geworden, und schließlich hatte er die halbe Nacht fiebernd und schreiend wach gelegen, bis ein seltsames, gefährliches Trio an ihre Tür klopfte.
Wenn es in ihrem Leben je einen Zeitpunkt gegeben hatte, an dem sie nicht zur Tür gehen wollte, dann um halb vier an diesem Morgen. Auf dem Weg hatte sie den weinenden Max auf dem Arm getragen und versucht, sich nicht die Haare zu raufen. Da sie solche Krisen nicht gewohnt war, wusste sie nicht, ob sie die Nacht durchhalten und ihn am nächsten Morgen zu seinem normalen Kinderarzt bringen sollte, oder ob sie besser Chloe aufweckte, um ihn direkt in eine Ambulanz zu fahren.
Aber ob es ihr passte oder nicht, sie musste die Tür öffnen. Das verlangte ihre frisch ererbte Position als Orakel von Louisville.
Grace, Chloe und Max lebten in dem alten, weitläufigen Bauernhaus, in dem Grace aufgewachsen war. Das Haus gehörte der Familie Andreas bereits, seit diese in die Vereinigten Staaten gekommen war. Es lag auf einem gut zwei Hektar großen Stück Land, das an den Ohio grenzte. Nach dem reichsübergreifenden Recht der Alten Völker sollte das gesamte Anwesen ein sicherer Zufluchtsort für jeden sein, der das Orakel befragen wollte, und das Orakel war verpflichtet, alle Ratsuchenden zu empfangen.
Aber dieses Orakel hätte entweder ihre Großmutter oder ihre Schwester Petra sein sollen. Grace hatte nie
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