Das Feuer des Daemons
missbilligend feststellte, war das Dach schäbig, und an einigen Stellen fehlten Ziegel. Das Grundstück war ebenso verwahrlost wie das Haus – das Gras stand zu hoch, und an den Zaunpfählen wucherte das Unkraut. Es annektierte die einst wohlgepflegten Blumenbeete. Überall, wo er hinsah, fand er Zeichen von Vernachlässigung, während die faule, streitsüchtige Menschenfrau schlief. Er fand keinen Gefallen daran – weder an der Art, wie das Anwesen gepflegt wurde, noch daran, wie sie für die Kinder sorgte. Er klopfte mit den Fingern auf seinen Bizeps und dachte nach.
Die Dschinn hatten zu den ersten Wesen gehört, die sich bei der Entstehung der Erde entwickelt hatten. Geboren aus Magie und Feuer, waren sie Wesen aus reinem Geist. Ihre Nahrung gewannen sie aus der Kraft der Sonne, aus dem Lebendigen auf der Erde und aus den Quellen magischer Energie. Jede Gestalt, die Khalil annahm, war wie ein Satz Kleidung, den er anzog, eine Fassade ohne echte Substanz. Dieser Körper, den er im Augenblick trug, besaß keine Organe und würde nicht hungrig werden oder altern und sterben. Er war leicht anzunehmen und leicht zu verwerfen und würde sich einfach in nichts auflösen, sobald Khalil ihn losließ.
Er war nicht der Älteste seiner Art, kein Dschinn der ersten Generation, die am verwegenen, strahlenden Morgen der Welt geboren worden war. Aber er entstammte der zweiten Generation und galt deshalb in seinem Volk als alt. In seinem Haus war er eine Autorität, und seine Stimme hatte bei allen Geschlechtern der Dschinn Gewicht. Verglichen mit seiner alterslosen Existenz war dieses junge Menschenwesen nichts weiter als ein Atemhauch der Zeit, und die Tatsache, dass sie
ihn
ignorant nannte, war einfach nicht hinnehmbar.
Während er ziemlich genau wusste, warum sie ihn wütend machte, wusste er nicht, warum sie ihn interessierte. Ihre Gesichtszüge und Körperformen waren hinreichend ansprechend, zumindest soweit das bei Menschen möglich war. Sie war blass, und in ihrem Gesicht lagen dunkle Schatten wie die Geister der Erinnerung. Diese Schatten waren faszinierend. Sie erzählten eine Geschichte, allerdings in einer Sprache, die er nicht verstand. Er fragte sich, was für eine Geschichte das sein mochte.
Ihre Haare – nun, ihre Haare fand er interessant. Sie hatten ein helles, rötliches Blond, als wären Feuer und Sonnenlicht darin eingefangen, und in ihren Augen lagen grüne und honigbraune Sprenkel. Ihr Temperament war so feurig wie ihr Haar, und auch sie trug magische Energie in ihrem schlanken Körper, eine ganze Menge sogar. Es war merkwürdig, dass ihm die magische Energie eines so jungen Wesens so alt vorkam. Auf dem Grundstück lagen Echos derselben Energie, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
In der nahe gelegenen Stadt nahm er Bewegungen und weitere Funken uralter magischer Energie wahr. Er wusste, dass ein paar der Wesen von der Konfrontation vom frühen Morgen noch in der Gegend waren. Carling und Rune, einige Ratsmitglieder des Tribunals, der König der Nachtwesen und der Drache waren irgendwo ganz in der Nähe. Khalil war neugierig darauf, wer von ihnen aufbrach und ob vielleicht jemand zurückkäme, um noch einmal mit dem Orakel zu sprechen.
Die Schatten über der Landschaft wurden länger. Der mittlere Westen fühlte sich schwer an, als hätte er sich mit Wasser vollgesogen und ginge mit einer Art Sturm schwanger. Von seiner Position auf dem Dach aus konnte Khalil den Ohio sehen, der die Westgrenze des Grundstücks einfasste. Es war einer der größten Flüsse des nordamerikanischen Kontinents, und auf seiner Wasseroberfläche fing sich das Sonnenlicht, sodass er aus sich selbst heraus zu leuchten schien.
Er lauschte auf die Geräusche im Inneren des Hauses, kleine, alltägliche Geräusche wie das Klirren von Besteck und Geschirr, das ansteckende Kichern des Babys oder Chloes helle Stimme. Das Kind plapperte über irgendetwas, wofür es sich begeisterte, und wenn es nicht redete, sang es. Unablässig stellte es Fragen. Trotz des feurigen Temperaments, das Grace Khalil gegenüber an den Tag gelegt hatte, beantwortete sie Chloes Fragen geduldig.
Es war wie ein kleines Vogelnest. Bei diesem Gedanken musste Khalil grinsen. Zwitscher, zwitscher, zwitscher. Dann das Geräusch von laufendem Wasser und vielen flatternden Flügeln. Das Zwitschern wurde lauter. Viel Gekicher, unterbrochen von Chloes Geträller und Max’ fröhlichem Jodeln. Der Lärm verlagerte sich von der Küche in einen anderen
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