Das Feuer von Konstantinopel
Fieberhaft versuchte Madame Dolly den Worten zu folgen:
„...ja morgen, ja morgen... die Zeit lässt dich ziehen... aber kehrst du zurück...? Öffne deine Hände, für den Wind aus Konstantinopel... morgen, ja mo rgen... nun umarme die Nacht... denn du sollst die Wahrheit erfahren...!“
Es war die Stimme eines Gespenstes. Madame Dolly schlug das Herz bis zum Hals. Sie kannte das Lied nur zu gut und auch die Stimme war ihr nicht fremd.
„Sonja... Sonjetschka, du bist zurück... wie habe ich dich vermisst, mein Kind“, heuchelte Madame Dolly. „Es ist so finster. So hilf’ mir doch. Bist du es, Sonja, Sonjetschka...?!“
„Ja, ich bin es. Und ich habe dir etwas mitgebracht. So kostbar, dass du es für immer bei dir tragen wirst. Sieh nur...“, rief die Stimme zart und leise, „...sieh doch, das Feuer von Konstantinopel, es leuchtet nur für dich!“
Ein rubinroter Blitz schlug in Madame Dollys Augen ein, erst in das eine, dann in das andere.
„Jetzt weißt du, was es heißt, blind zu sein!“, flüsterte die Stimme von Sonja.
Erst hörte Madame Dolly Flügel schlagen, dann kam die Ohnmacht über sie un d erlöste sie von ihrem Schmerz.
T e i l 2 : D e r e i n ä u g i g e W o l f
9 .
Jetzt ist die Nacht da. Dunkel und warm. Über uns nichts als das schwarze Universum, voll von unzähligen Sternen und dem einsamen Mond. Das Meer so ruhig. Kaum Seegang, kaum Wellen. Gleichgültig brummt der Schiffsmotor vor sich hin.
Wie lange sitzen wir hier nun schon zusammen, lauschen dem Wogen des Wassers? Seht nur, wie die anderen Passagiere ihren Gedanken nachhängen. Jeder für sich. Viele sind zwar müde, bleiben aber wach. Bequem liegen sie auf ihren Gepäckstücken, und ihre Augen glänzen vor Sehnsucht und Neugier. Denn im Dunkeln sieht man Dinge. Andere Dinge. Die Dunkelheit führt in unsere Träume. Sie führt uns dorthin, wo unsere Seele wohnt. Sie führt uns Irrwege entlang. Hier kommt Nebel, dort ein Graben, ein Stück weiter das Dickicht. Wie finden wir zurück? Wir, die Pilger, die Träumenden. Gibt es noch etwas, was wirklich ist? Wir taumeln wie das Schiff über ein Meer aus Hoffnung...
Und so sage ich euch: Der Schatten eines großen Unglücks ist über das junge Leben des Felix von Flocke gefallen. Er ist in die Hände des Verbrechens geraten.
„Ist sie tot?“, fragte Baptist in die Dunkelheit hinein.
„Sie schläft“, antwortete ihm Felix leise.
„Dann fass’ sie an!“, flüsterte Baptist zurück.
Er hatte sich hinter dem Rücken von Felix in Sicherheit gebracht. Man konnte nie wissen.
„Hör’ auf damit!“, befahl Felix.
„Bestimmt hat sie irgendwo Gold versteckt!“, mutmaßte Baptist. „Richtiges, echtes Gold...!“
„So ein Unsinn, du Dieb!“, antwortete Felix.
„...oder Honigbrote!“, Baptist ließ nicht locker.
Felix dagegen konnte kaum glauben, was er da sah: Vor ihm lag Fräulein Romitschka kerzengrade ausgestreckt auf dem Bett in Zimmer Nummer 7 im ersten Stock des Hotels Giraffe . Ihren Mantel und ihren Hut hatte sie nicht abgelegt. Auch den Regenschirm hielt sie wie gewohnt in ihrer linken, die Reisetasche in ihrer rechten Hand.
„Lassen wir sie schlafen“, beschloss Felix.
„Meinetwegen“, antworte Baptist leise. „Vielleicht ist sie wirklich verrückt geworden. Sie hatte keine Ahnung, wer du bist.“
„Aber sie hat die Katze mit dem Ball erkannt. Die du uns stehlen wolltest...!“ Felix merkte, dass er gar keine richtige Wut mehr auf Baptist hatte. Ganz anders als damals, an dem Tag, an dem Baptist bei Flockes an der Haustüre geklingelt hatte. Damals hätte er ihn erwürgen können.
„Morgen macht sie uns bestimmt Honigbrote!“, hoffte Baptist inständig. „Sie ist ein richtiges Kinderfräulein. Nur sie weiß, wie das geht... Honigbrote!“
Felix schob Baptist aus dem Zimmer. Am Ende weckte das Gerede noch Fräulein Romitschka. Sie sollte sich ausruhen. So wie damals in der Pappelallee, nachdem sie am Sonntag punkt vier Uhr nachmittags immer ihren Himbeerlikör getrunken hatte und ihr im Schlaf das schwere Buch mit den griechischen Dramen vom Schoß rutschte. Der dumpfe Knall, der folgte, war das Zeichen für Felix und Fedora, dass sie nun machen konnten, was sie wollten. Zum Beispiel im Wohnzimmer mit Decken und Stühlen ein Zelt bauen. In dem verkrochen sie sich und Felix erzählte Geschichten, die er sich ausdachte. Am liebsten erzählte er die Geschichte vom einäugigen Wolf, den sein Rudel
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