Das Feuer von Konstantinopel
er so unverdächtig wie möglich klingen. Wer weiß, was die Alte alles mitbekommen hatte, von dem, was hier eben auf dem Dachboden vor sich gegangen war.
„Deine Zeit ist abgelaufen!“, giftete ihn Madame Dolly an. „Gleich morgen werde ich den Kardinal alarmieren. Dann lehrt er dich im Kanal schwimmen, mit Eisen an den Füßen...!“
Dolly verfiel in einen hysterischen Lachanfall. Wie von Sinnen jaulte sie los. Es klang, als hetzte eine Hundemeute einen Hasen.
Felix erstarrte. So etwas Unheimliches hatte er nie zuvor erlebt.
„Blut wird fließen... dass ich nicht lache! Ja, wer so spricht, dessen Blut wird selber fließen!“ Dabei deutete sie mit ihrem krummen Finger auf Felix.
Und der hatte keinen Zweifel daran – sie meinte es ernst, mit dem was sie sagte und tat. Er begriff sofort, dass sie alles mit angehört hatte, sie wusste, dass Felix alles wusste und das war gefährlich für ihn, lebensgefährlich...
„Du bist wie diese Sonja. Auch du willst Baptist für dich. Das wird der Kardinal niemals dulden.“
Immer noch lachend schwankte Madame Dolly auf die Dachbodentreppe zu. Felix musste handeln und zwar schnell. Ihm musste etwas einfallen, er durfte sie nicht gehen lassen.
„Und die Zuckersäcke...?!“, schrie sie mit ihrer entsetzlichen Stimme, „...die gehen mit dir im Kanal unter. Ich hasse Zuckersäcke! Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich sie hasse! In meinem Haus haben sie nichts zu suchen. – Wer erlaubt euch überhaupt diese Frechheiten, wer, frage ich dich?!?“
Sie hatte sich einen Knüppel gegriffen, der auf dem Boden gelegen hatte. Mit dem war sie jetzt zu Felix zurückgekehrt. In der Dunkelheit schlug sie nach ihm, immer wieder, bis sie ihn am Kopf traf.
„Hören Sie auf damit!“, schrie Felix sie an. „Ich blute!“
„Ich kratze dir die Augen aus!“, schnaufte Madame Dolly wütend.
Felix musste schnell handeln, bevor es für ihn wirklich zu spät war. Von ihr unbemerkt zog er einen am Boden liegenden Zuckersack mit dem Fuß zu sich.
„Ich will alles tun, was Sie sagen, Madame Dolly!“, flüsterte ihr Felix zu, um sie endlich zu beruhigen.
„Du wirst unseren Plan nicht verraten, du kleine Ratte!“, fuhr sie fort. Erneut versuchte sie mit dem Knüppel Felix zu treffen.
„Meine Güte...!“, rief Felix plötzlich erstaunt aus. „Welche Uhrzeit haben wir überhaupt?“
Das machte Madame Dolly stutzig. Die Zeit war ihr wichtig. Sie bestimmte ihr ganzes Dasein. Jahrelang hatte sie mit ihrer klobigen silbernen Taschenuhr die genaue Uhrzeit aus dem Chronometrischen Institut abgeholt und zog dann los, klopfte an die Türen der kleinen Händler und Handwerker, um ihnen die genaue Zeit zu verkaufen. Die stellten dann ihre Uhren neu. Die genaue Zeit gewann immer mehr an Bedeutung. Schuld daran war die Eisenbahn. Madame Dolly war eine Zeitverkäuferin und kam dadurch viel herum in der Stadt. Es war ein mühsames, aber recht einträgliches Geschäft, das sie aber aufgab, als der Kardinal sie für das Hotel Giraffe brauchte.
Felix hatte es also geschafft, sie abzulenken. Denn jetzt wurde sie auf einmal ganz unruhig.
„Ja, welche Urzeit haben wir jetzt... wenn ich das nur wüsste?“, überlegte sie.
„Hier, von der Dachluke aus können Sie die Kirchturmuhr sehen!“, schlug Felix ihr vor.
Für einen Moment überlegte Madame Dolly. Dann lachte sie wieder auf.
„Diese Uhren sind nie genau. Das weiß doch jedes Kind. Deshalb braucht man mich, Madame Dolly, mit ihrer silbernen Uhr. Wie gerne kauften mir die Menschen die Zeit ab.“
Sie hielt plötzlich inne.
„Du willst mich wohl vom Dach stoßen, du widerliche Kreatur!“, kreischte sie und warf mit voller Wucht den Knüppel nach ihm. Felix konnte ihm gerade noch ausweichen. Er wollte aber auf keinen Fall von dem Zuckersack weg, denn er hatte einen Plan.
„Ich kann die Uhrzeit für Sie lesen, wenn Sie wollen!“, schlug Felix ihr vor.
„Du kennst die Uhr?“, fragte Madame Dolly erstaunt zurück.
„Ja!“, antwortete Felix.
„Nun... nur zu...! Du kluges Kerlchen!“, schmeichelte sie ihm plötzlich.
Felix ging langsam in Richtung Dachluke. Dabei versuchte er, unauffällig den Zuckersack mit dem Fuß mitzuziehen. Er reckte seinen Kopf in die Luft, so als wollte er aus der Dachluke sehen. Aber er beobachtete stets nur Madame Dolly, die sich in ihren Umhang mummelte und sich hin und her wiegte, wie ein kleines Mädchen im Bonbonladen.
„Ich kann gar nicht mit ansehen, wie du da an der gefährlichen Dachluke
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