Das Feuer von Konstantinopel
meisten von ihnen haben ihrem Leben selbst ein Ende bereitet. Niemand wird sich wundern, wenn Madame Dolly auch dabei ist. Bestimmt nicht...!“, erklärte Baptist, machte aber keinerlei Anstalten, sich der Toten auch nur einen Schritt zu nähern.
„Na dann... worauf warten wir noch. Wir müssen uns beeilen, es wird bald hell“, sagte Felix und griff beherzt nach dem Zuckersack.
Die beiden Jungen haben die alte Dolly gepackt, haben sie auf den kleinen Kohlehandwagen gehievt und sind so mit ihr durch die finsteren Gassen gezogen, um die Tote am Ende der Reise am Engelufer dem schaurig-schwarzen Wasser des Kanals zu übergeben. Ein stilles Glucksen war alles, was zu hören war. Damit war die Zeithändlerin, die Kinderhändlerin vom Krätzeviertel für immer verschwunden, schwamm mit den anderen Toten der Nacht hinaus, vielleicht bis zum Meer, zum Meer der Ewigkeit und Verdammnis, vielleicht auch nicht...
Für Felix und Baptist wurde es eine lange Nacht. Erst früh am Morgen kamen die beiden zum Hotel Giraffe zurück. Sie verstauten den kleinen Handwagen wieder im hinteren Teil des Hoteleingangs und machten sich auf zum Zimmer Nummer 7. Dort schlief Fräulein Romitschka nach wie vor friedlich vor sich hin. Sie hatte sich keinen Millimeter bewegt.
Die beiden Jungen waren todmüde. Aber Baptist hatte nicht die geringste Lust, oben auf dem Dachboden zu schlafen, am Schauplatz eines ‚brutalen Verbrechens’.
Solange er denken konnte, hatte Baptist noch nie in einem richtigen Bett geschlafen. Immer nur auf dem harten Boden, Jutesäcken oder Stroh. Felix kam deshalb auf die Idee, sich in eines der Hotelbetten zu legen. Wenigstens für eine Stunde. Es gäbe doch niemanden mehr, der ihnen dies verbieten könnte.
Baptist war bei dem Gedanken unwohl. Als sie in Zimmer Nummer 3 vor dem großen Bett standen, traute er sich zunächst nicht hineinzusteigen. Es war ein altes muffiges Lager, eingezwängt in einen schäbigen Raum.
Erst als Felix ihm versicherte, in einem Bett zu schlafen sei fast so wie Honigbrote essen, fiel auch Baptist auf die weiche faulige Matratze und versank augenblicklich im Schlaf.
Zu diesem Zeitpunkt rauchten längst schon die ersten Schornsteine im Krätzeviertel und die engen Gassen bevölkerten sich mit zahllosen Menschen, auf der Suche nach dem täglichen Brot.
Felix träumte von dem goldenen Pendel der Uhr in der Pappelallee. Er hörte im Traum die Stimme der Mutter und die Schritte des Vaters. Die Mutter sprach mit dem Vater. Es klang so, als würde sie sich Sorgen machen. Immer wieder fiel sein Name, mehr konnte Felix nicht verstehen. Ein großer Ballon trug ihn in die Höhe und er sah von oben auf das Haus der Eltern. Alles konnte er aus dieser Höhe erkennen: das weite rote Dach, die steinernen Kamine und den Springbrunnen im Garten. Felix wollte winken, er wollte allen zuwinken: seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester. Sie sollten ihn sehen. Aber der Ballon stieg und stieg und Felix bekam immer weniger Luft. Es würgte ihn und er drohte zu ersticken...
Mit einem Schlag wachte er auf, denn Todesangst durchfuhr ihn. Jetzt begriff er auch warum: wie ein Eisen hatte sich der rote Handschuh des Kardinals um seinen Hals gelegt und drückte zu.
„Ist das der Dank?“, fauchte der Kardinal voller Wut. „Ist das der Dank dafür, dass ich dich aus der Gosse geholt habe? – Was habt ihr hier in den Betten zu suchen?“ Sein Gesicht war jetzt ganz dicht über dem von Felix, der die Augen weit aufgerissen hatte und nach Luft rang.
„Antworte gefälligst, Felix!“, zischte die Fratze des Kardinals bedrohlich.
Aus den Augenwinkeln konnte Felix erkennen, dass Baptist neben ihm friedlich weiterschlief, vergraben unter modrigen Kissen.
„Wo steckt Madame Dolly? Was geht hier vor? Antworte!“ Unerbittlich drückte der Kardinal mit seinem Handschuh die Kehle von Felix zu. Der Junge begann zu röcheln und in Panik um sich zu schlagen. Dabei traf er den Kopf von Baptist. Der wurde wach und begriff sofort, was vor sich ging.
„Kardinal... ein großes schreckliches Unglück! – Vorsicht Felix, er hat ein Messer!“, stammelte Baptist los und rieb sich die Augen.
„Du halt die Klappe! Wo siehst du denn hier ein Messer?“, schnauzte ihn der Kardinal an und lockerte langsam den Griff um Felix’ Hals. Ein Messer war tatsächlich nirgends zu sehen. Baptist hatte es mit einem Ablenkungsmanöver versucht und es hatte geklappt.
„Hörst du denn nicht, wie ich nach dir rufe?“,
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