Das Feuer von Konstantinopel
ist allein auf dem Dachboden gewesen“, sagte Felix und verschwieg, was er wirklich über das Schicksal von Sonja wusste und was er selbst erlebt hatte.
Der raue Zuckersack gab den Körper der Toten frei.
„Wie schrecklich!“, rief er leise aus.
„Ich will nichts sehen“, antwortete Baptist. „Die armen Toten.“
„Was ist nur in sie gefahren?“, flüsterte Felix fassungslos. „Was ist mit ihren Augen?“
„Sie ist verurteilt für die Hölle. Das Sonnenschiff wird nicht kommen, um sie zu holen. Der Himmel wird leer bleiben.“ Baptist sprach wie aus einem Nebel aus Gedanken, als hätte ihn das Fieber übermannt. „Sie hat umsonst gewartet! All die Stunden, alle die Tage! Die Welt ihrer Ahnen wird nun ewig auf sie warten. – Öffne deine Hände, Felix! Lass ihre Seele frei...! Wir helfen ihr!“
„Baptist! Komm’ wieder zu dir. Was redest du da? Wer bringt dir so etwas bei?“
Baptist schien Felix gar nicht zu sehen.
„Wir müssen sie von hier wegschaffen. Noch diese Nacht. Sonst glauben alle, wir waren es, wir hätten sie getötet. Ich will nicht zurück ins Gefängnis!“, sagte Felix und hoffte, Baptist würde sich wieder auf das besinnen, was jetzt zu tun war.
„Ist das das Ende?“, wollte Baptist von Felix wissen.
„Du musst wieder zur Vernunft kommen!“ Felix wurde das alles unheimlich.
„Vielleicht warten die Mörder noch auf dem Dach auf uns?“ Baptist kam langsam wieder zu sich.
„Es gibt keine Mörder!“, antwortete Felix. „ Der Treppensturz hat sie umgebracht!“
Felix zog den Zuckersack wieder über die alte Dolly.
„Öffne die Hände...!“, flehte Baptist noch einmal Felix an.
Felix tat ihm den Gefallen. Beide Jungen öffneten ihre Hände mit den Handflächen nach oben. Während Baptist etwas Unverständliches vor sich hin murmelte, überlegte Felix leise:
„Es war doch niemand hier. Nur Suleika...!? Aber warum sollte sie so etwas Grausames tun?“
Er sah hoch zur Dachluke, die weit über ihnen offen stand und durch die der Mond schien. Er war der einzige Zeuge für das, was dort oben stattgefunden hatte.
„Wer ist Suleika?“, fragte Baptist.
Doch Felix hatte keine Lust, ihm zu antworten. Er hatte das Gefühl, die Wahrheit würde Baptist nur noch mehr verwirren.
„Wir erzählen dem Kardinal, Madame Dolly sei gegangen und einfach nicht mehr zurückgekehrt. Auf und davon. Vielleicht für immer, wer weiß...!?“, schlug Felix vor. Er war zu allem entschlossen.
Mit einem Ruck schnürte er den Sack mit der Toten fest zu. Dann nahm er ihre Brille, die bei dem Sturz herausgefallen war, und steckte sie in seine Hosentasche.
„Was hast du mit ihr vor?“, wollte Baptist wissen.
„Pack’ mit an!“, forderte ihn Felix auf.
„Niemals.“ Baptist wich zurück, als hätte ihn Felix aufgefordert, dem Teufel persönlich die Hand zu schütteln.
Jetzt erst bemerkte Felix, dass Baptist in der offenen Hoteltüre stand. Von der Straße aus konnte ihn jeder sehen.
„Still!“, zischte er Baptist an und zog ihn mit einem Ruck zurück in die Dunkelheit des Treppenhauses.
Draußen auf der Gasse schlenderte ein Schutzmann auf und ab. Seine Schritte hallten durch die Nacht. Er blieb stehen und warf einen langen Schatten.
„He da!“, rief er plötzlich aus.
Felix und Baptist hielten den Atem an. Zu ihren Füßen lag die tote Madame Dolly. Die Jungen wagten keine Bewegung mehr.
„He da!“, rief der Polizist noch einmal. Meinte er etwa Felix und Baptist?
Im Hauseingang gegenüber vom Hotel Giraffe stand eine Frau und rauchte eine Zigarette.
„Die Straße ist für alle da!“, antwortete die Frau dem Polizisten frech.
„Weitergehen, marsch, marsch!“, befahl der Mann in Uniform, ohne sich vom Fleck zu rühren.
„Man wird ja wohl noch mal in Ruhe pinkeln dürfen. Mich sperrt niemand mehr ein, du Flasche!“, rief sie und torkelte davon. Zufrieden schlenderte der Polizist in die andere Richtung weiter. Dann herrschte wieder Ruhe auf der Straße.
Felix und Baptist holten tief Luft. Die Gefahr war vorüber – im Moment zumindest.
„Ich hab’ eine Idee!“, meldete sich Baptist zu Wort.
„Na endlich!“ Felix atmete auf. Endlich konnte man mit Baptist wieder vernünftig reden.
„Wir schaffen sie zum Engelufer.“
„Wohin?“, fragte Felix.
„Das ist der Ort, da treiben die Wasserleichen an, am Kanal... gleich hinter der Essigfabrik. Nacht für Nacht werden neue Tote am Kai angeschwemmt. Sie werden herausgefischt und keiner kennt ihre Namen. Die
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