Das Feuer von Konstantinopel
sein konnte, und einem Mann mit einer Trommel. Der konnte ihr Großvater sein. Während die beiden Männer ihre Instrumente parat hielten, blickte Esther mit einem Lächeln ins Publikum. Sofort beruhigten sich die Zuschauer.
Auch Felix vergaß den Rest seiner Erbsensuppe und hatte nur noch Augen für sie.
„Auslecken!“, befahl ihm Ottilie. Die sah die kostbare Suppe schon verschwendet.
Felix gehorchte und leckte den Teller blank, ohne den Blick von dem Mädchen mit der Geige zu wenden.
Esther klemmte sich seelenruhig ihr Instrument unter das Kinn und betrachtete weiter die Menge.
Da warf ein Mann mit einem Zylinder ohne Vorwarnung plötzlich eine tote Ratte in hohem Bogen auf die Bühne.
„Friss, Judenmädl!“, rief er so laut er konnte und lachte dabei.
In dem Moment fror die Stimmung ein, es herrschte Totenstille.
„Igitt!“, flüsterte Hermine entsetzt. „So ein Schwein!“
Ganz ruhig setzte Esther die Geige ab und schob die Ratte mit dem Fuß vorsichtig über den Bühnenrand.
„Friss sie doch selbst, wenn du schon so ein großes Maul hast!“, rief Esther dem Mann mit dem Zylinder zu. Angst hatte sie keine. Felix war beeindruckt. Die Menschen fingen laut zu lachen an. Mit finsterer Miene zog sich der Mann zurück auf seinen Platz. Er hatte den Kürzeren gezogen.
Esther legte erneut die Geige an.
Sie rief ganz laut „Polka!“ in den Saal und stampfte dazu dreimal mit dem Fuß auf den Boden. Das war das Zeichen. Die Musik legte los. Der Großvater trommelte den Rhythmus, der Vater zupfte den Kontrabass und Esther spielte die Geige, als könnte sie nichts und niemand auf der Welt stoppen. Sie fiedelte so wild drauflos, als müsste der Bogen jeden Moment Funken schlagen.
Jetzt wurde getanzt. Paare hatten sich schnell gefunden. Es gab kein Halten mehr. Der Tanzboden quoll über, die Masse brodelte. Vor den Augen von Felix brachte das Mädchen mit der Geige die ‘Neue Welt’ zum explodieren.
„Feste los, hin und her, ja so tanzt man ganz famos...!“, jubelte Hermine im Takt der Musik. Dann hielt es auch sie nicht mehr auf ihrem Platz:
„Komm’ Otti, jetzt wir beiden!“
Hermine riss Ottilie mit sich und zog sie aufs Parkett. Einander fest umklammernd tobten die beiden Dienstmädchen los, und zwängten sich zwischen die andern Tanzenden.
Felix blieb allein am Tisch zurück. Die Musik tat ihm gut, sie gefiel ihm. Der Holzboden bebte, Gläser und Geschirr klirrten.
‚Ob wohl die Kaiserin auch wegen dem Mädchen mit der Geige hierher gekommen ist?’, fragte er sich. Er blickte sich um, ob er sie nicht irgendwo im Gewühl ausfindig machen konnte. Schließlich war sie doch zur Türe hereingegangen, also musste sie auch hier sein.
Zwei Tische weiter hielten sich ein Mann und eine Frau eng umschlungen. Sie hatten die Welt um sich herum vergessen. Die beiden blickten einander tief in die Augen. Felix überlegte, was wohl wäre, wenn er ein Kind einer solchen Liebe wäre? Wenn die Flockes gar nicht seine richtigen Eltern wären, sondern seine wahren Eltern am gleichen Platz gesessen hätten, wie das verliebte Paar jetzt? Als Baby hätte ihn dann die leibliche Mutter bei Madame Dolly abgegeben, weil sie zu arm war, weil der leibliche Vater verschwand, ohne ihr ein Wort zu sagen, und weil sie hart arbeiten musste...
‚Ja...’, dachte Felix. ‚So könnte es gewesen sein.’
Als Esther die Geige absetzte, tobte und toste der ganze Saal. Alle klatschten glücklich in die Hände, die jungen Burschen johlten und warfen ihre Mützen in die Luft. Esther lächelte nur dazu und wartete ab.
Am Bühnenrand wippte Watzke stolz auf und ab, die Daumen in den Westentaschen. Er gab Esther ein Zeichen, indem er ihr mit dem Kopf zunickte, und das Mädchen setzte die Geige erneut am Kinn an. Noch eine Runde Polka wurde angestimmt. Das Gleiche wiederholte sich: Esther ließ den Bogen über die Saiten springen und die Tanzpaare wurden von der Musik mitgerissen.
In der Zwischenzeit hatte Felix die Kaiserin und ihre Begleitung entdeckt: Die schwarze Gesellschaft saß in einer kleinen Loge über der Menge. Niemand kam auf die Idee, zu ihnen hochzusehen. Nur Felix.
Die Kaiserin sah Felix ebenfalls. Sie gab ihm noch einmal das Zeichen, sie nicht zu verraten, indem sie ihren Zeigefinger auf die Lippen legte. Felix lächelte und nickte ihr zu, er habe das Zeichen verstanden.
Die Musik war zu Ende und die Lichter verloschen. Ein Raunen ging durch die Menge und alle beeilten sich, rasch auf ihre Plätze zu kommen.
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