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Das Flammende Kreuz

Titel: Das Flammende Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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mit Tom Christie?

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    Mittsommer Dämmerlicht
    Am nächsten Tag schloss Roger hinter sich die Tür und blieb eine Minute auf der Veranda stehen, um die kalte, klare Luft des späten Morgens einzuatmen - spät, lieber Gott, es konnte nicht später als halb sieben sein, doch es war um einiges später, als er gewöhnlich den Tag begann. Die Sonne war bereits in die Kastanien auf dem höchsten Bergkamm gestiegen, und ihr Umriss leuchtete als flammende Scheibe durch die letzten, gelben Blätter.
    Es lag immer noch ein Hauch von Blut in der Luft, auch wenn keine Spur mehr von dem Büffel übrig war, abgesehen von einer dunklen Stelle in den flach gedrückten Kürbisranken. Er sah sich um und führte seine Bestandsaufnahme durch, indem er im Geiste seine Aufgaben für den heutigen Tag auflistete. Auf dem herbstlich schäbigen Hof scharrten die Hühner, und im Kastanienhain hörte er eine kleine Schweineherde nach Futter wühlen.
    Er hatte das seltsame Gefühl, nicht vor wenigen Tagen, sondern vor Monaten, ja, Jahren zuletzt auf dem Hof Hand angelegt zu haben. Das Gefühl der Orientierungslosigkeit - das anfangs so stark gewesen war - war eigentlich seit langem von ihm gewichen, doch jetzt war es wieder da, stärker als je zuvor. Wenn er einen Moment die Augen schloss und sie dann wieder öffnete, würde er sich doch mit Sicherheit auf der Broad Street in Oxford wiederfinden, die Nase voller Autoabgase, in Erwartung eines Morgens, den er friedlich büffelnd zwischen den verstaubten Büchern der Bodleian-Bibliothek verbringen würde.
    Er klatschte sich mit der Hand auf den Oberschenkel, um das Gefühl zu vertreiben. Nicht heute. Dies war Fraser’s Ridge, nicht Oxford, und seine Aufgaben mochten zwar friedlich sein, doch er würde sie mit den Händen verrichten, nicht mit dem Kopf. Er musste Bäume ringeln und Heu ernten; kein Feldheu, sondern das wilde Heu, das in kleinen Flecken auf den Hügeln verstreut wuchs, die hier und dort einen Arm voll hergaben - genug, um eine zusätzliche Kuh über den Winter zu bringen.
    Ein Loch, das ein herabfallender Ast in das Dach des Räucherschuppens gerissen hatte. Das Dach musste geflickt und mit neuen Schindeln versehen,
der Ast zu Brennholz zerhackt werden. Es musste ein Loch für einen neuen Abort gegraben werden, bevor der Boden gefror oder sich in Schlamm verwandelte. Flachs musste gehäckselt werden. Zaunbretter abgespalten werden. Lizzies Spinnrad repariert werden...
    Er fühlte sich zerschlagen und dumpf, zu keiner einzigen Entscheidung fähig, von komplexen Gedankengängen ganz zu schweigen. Er hatte genug geschlafen - mehr als genug -, um sich körperlich von der Erschöpfung der letzten paar Tage zu erholen, doch die Ankunft von Thomas Christie und seiner Familie so unmittelbar nach Jamies dramatischem Heimtransport hatte ihm jede geistige Energie geraubt.
    Er warf einen Blick zum Himmel; eine Reihe von Federwolken breitete sich tief über den Horizont. Es würde vorerst nicht regnen, das Dach konnte warten. Er zuckte mit den Achseln und kratzte sich am Kopf. Also Heu und Bäumeringeln. Er packte eine Steingutflasche mit Ale und das Sandwichpaket, das Brianna ihm gemacht hatte, in seine Tasche und holte die Handsichel und das Beil.
    Beim Gehen wurde er langsam wach. Im Schatten unter den Kiefern war es kalt, doch die Sonne stand jetzt so hoch, dass er sie spüren konnte, wenn er über eine helle Stelle schritt. Durch die Bewegung erwärmten und lockerten sich seine Muskeln, und als er die erste Hochwiese erreichte, fühlte er sich allmählich wieder wie er selbst, fest in der physischen Welt von Berg und Wald verankert. Die Zukunft hatte sich in die Welt der Träume und Erinnerungen zurückgezogen, und er befand sich wieder ganz im Hier und jetzt.
    »Und das ist auch gut so«, murmelte er vor sich hin. »Du willst dir ja schließlich nicht den Fuß abschneiden.« Er ließ die Axt am Fuß eines Baumes fallen und bückte sich, um Heu zu schneiden.
    Es war nicht die beruhigend monotone Arbeit des normalen Heumachens, bei der die große, zweihändige Sichel das trockene, fette Gras in ästhetischen Reihen auf das Feld legte. Dies war eine grobere, zugleich aber einfachere Arbeit, bei der er mit einer Hand ein Büschel Timotheus- oder Präriegras ergriff, die Halme dicht über der Wurzel abschnitt und das wilde Heu in den Jutesack stopfte, den er mitgebracht hatte.
    Es erforderte im Gegensatz zur hirnlosen Kraftanstrengung des Heumachens auf dem Feld keine große Stärke, dafür

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