Das Flüstern der Albträume
Abendspaziergang macht.
Ihre Muskeln schrien: Lauf, versteck dich!
Doch sie tat es nicht.
Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass selbst die Unschuldigen schuldig wirkten, wenn sie wegrannten.
2
Montag, 3. April, 22:20 Uhr
Deacon Garrison, Detective im Morddezernat von Alexandria City, beobachtete, wie die Frau sich zurückzog. Sie war klein, schmal wie ein Junge und hatte langes, dunkles Haar, das ihr bis auf den Rücken fiel und ihr blasses Gesicht umrahmte. Sie trug Jeans und einen Kapuzenpulli, der nicht so aussah, als würde er sie sonderlich warm halten. Sie hätte leicht als Jugendliche durchgehen können, wäre da nicht diese Intensität gewesen, die ihre ganze Haltung ausstrahlte.
Für diese Frau war das Feuer nicht nur eine abendliche Ablenkung. Es war etwas Persönliches, Schmerzliches, und so sehr es auch den Anschein hatte, als wollte sie sich von der Szenerie abwenden, so sehr bezweifelte er, dass sie es konnte. Über ihre blasse Wange rann eine Träne, und sie wischte sie energisch weg. Die Frau gehörte nicht hierher.
Wer sie auch war, er musste sie befragen, bevor sie ihm entwischte. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie über Informationen verfügte, die sich als wertvoll erweisen würden.
Als er ihr nachging, rief jemand seinen Namen. »Deacon.«
Garrison drehte sich um und erblickte seinen Partner, Detective Malcolm Kier, der gerade unter dem gelben Absperrband hindurchtauchte. Malcolm hatte die muskulöse Statur eines Boxers, pechschwarzes Haar und eine zynische Art, die man bei Männern Anfang dreißig selten sah. Er trug Jeans, ein graues Sweatshirt und abgetragene Lederstiefel. An einer Kette um seinen Hals baumelte seine Polizeimarke, und an seiner rechten Hüfte steckte seine Pistole. Während der letzten Tage war er den Appalachenweg entlanggewandert und erst heute zurückgekehrt.
Garrison und Malcolm gehörten zu einer vierköpfigen Spezialeinheit des Morddezernats in Alexandria, Virginia, einer Stadt, die im Norden an den Potomac River grenzte. Eine wechselvolle Geschichte, Wohlstand und Armut charakterisierten die Stadt.
»Ich habe gerade von dem Feuer gehört.« Ein leichter Akzent verriet Malcolms Herkunft aus Zentralvirginia.
Garrison stemmte die Hände in die Hüften und schaute wieder zu der Gruppe von Neugierigen hinüber. Die Frau war verschwunden. Forschend schweifte sein Blick über die Menge, doch sie war nicht mehr zu sehen. Mist. Er seufzte frustriert und fragte sich, ob die Überwachungskameras sie eingefangen hatten. »Ich habe hier eine Frau gesehen, die ganz absorbiert zu sein schien von dem Brand.«
Malcolm runzelte die Stirn. »Willst du versuchen, sie zu finden?«
»Ja. An die Leiche kommen wir sowieso nicht ran, bevor alles abgekühlt ist. Und das dauert noch.«
»Und wonach suche ich?«
»Zierlich, lange, schwarze Haare, sieht wie ein Teenager aus, ist aber keiner.«
Während der nächsten halben Stunde durchkämmten die beiden Detectives die Menge und befragten die Leute, um herauszufinden, ob jemand die Frau kannte. Doch niemand hatte sie gesehen. Einer Hundebesitzerin war jemand mit Kapuze aufgefallen, sie hatte sich aber nicht gemerkt, in welche Richtung er oder sie gegangen war. Immerhin wusste die Zeugin, dass die Person durchdringend blaue Augen hatte.
Garrison fragte sich, wieso die Frau ihm direkt aufgefallen war. Hatten die sieben Jahre bei der Polizei seine Sinne für Brandstiftung geschärft, oder war es einfach der ramponierte Ritter in ihm, der auf die Furcht einer Frau reagierte? Was auch immer ihn an ihr faszinierte, er tat gut daran, sich zu erinnern, dass eine elfenhafte Erscheinung mitunter gefährliche Untiefen verbarg.
Eine Dreiviertelstunde später hatten sie die Frau immer noch nicht gefunden. Falls sie noch in der Nähe war, versteckte sie sich gut.
»Irgendein Zeichen von ihr?« Garrison fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Nein«, antwortete Malcolm. »Sie ist anscheinend verschwunden.«
Verdammter Mist . »Okay.«
»Hat sie das Feuer gelegt?«
»Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas an dem Brand hat ihr ganz schön zugesetzt.«
»Deacon Garrison.« Die heisere, unverwechselbare Stimme gehörte Lieutenant Macy LaPorta, Brandermittlerin der Feuerwehr von Alexandria.
Garrison drehte sich um und sah Macy zwischen zwei Feuerwehrleuten stehen. Sie hob eine Hand. Die Geste kannte er. Bleib, wo du bist .
Macy war einen Meter zweiundsiebzig groß und gertenschlank. Neben den beiden massigen Feuerwehrleuten, die beide über
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