Das Flüstern der Albträume
das nicht? Vor vielen Jahren hatte sie eine furchtbare Lüge erzählt, doch diese Lüge hatte sie seitdem fast jeden Tag gequält, und sie hatte gebetet, dass Gott ihr verzeihen möge. Zu Weihnachten hatte sie für ein Tierheim gespendet. Ostern ging sie in die Kirche. Auf das Grab ihres Stiefvaters hatte sie Blumen gelegt, obwohl das Schwein keinerlei Respekt verdient hatte. Himmel, sie war doch gerade erst dreißig geworden.
Gute Menschen starben nicht auf diese Weise.
Sie hatte das nicht verdient!
Ihr Kopf sank nach hinten, während sie versuchte, die Panik zu unterdrücken und sich darauf zu konzentrieren, wie sie hier vielleicht herauskommen könnte.
Heilige Muttergottes, das musste doch ein Albtraum sein. Es musste so sein! So etwas passierte normalen Frauen einfach nicht.
Doch ihre aufgescheuerten Handgelenke und der Schmerz in ihrem Rücken sagten ihr etwas anderes. Das hier war kein Albtraum.
Sie starrte den Mann an, und die Angst ballte sich zu einem Klumpen in ihrem Magen zusammen. War es der aus der Bar, der sich neben sie gesetzt hatte? Sie wusste es nicht, aber sie spürte, dass er es war. Wer sonst würde ihr so etwas antun? Der einzige Mann, von dem sie wusste, dass er die nötige Grausamkeit besessen hätte, war schon seit vielen Jahren tot.
»Weißt du, es war leicht, dich zu finden.« Seine Stimme klang wie Sandpapier. »Du bist nur fünf Blocks von deinem Elternhaus weggezogen.«
Sie hörte auf zu kämpfen und zermarterte sich den Kopf darüber, wer er sein könnte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, den Schleier der Verwirrung zu durchdringen, sie kam nicht darauf. Furcht stieg in ihr auf, und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Es klang wie bei einem Tier, das in einer Falle festsitzt.
Der Mann richtete sich auf und drehte sich zu ihr um. Er trug einen weiten, langen Mantel, wodurch sich seine Größe schwer schätzen ließ – vielleicht eins fünfundsiebzig. Während er auf sie zukam, spiegelte sich ihr verängstigtes Gesicht in seiner Brille. Er zog das Klebeband von ihrem Mund und riss dabei ihre Lippen auf. Sie schmeckte Blut.
»Überrascht, mich wiederzusehen?«
Beim Klang der krächzenden Stimme schauderte sie. Im Feuerschein erkannte sie, dass er eine Perücke trug, und auch sein Bart schien falsch zu sein. Die dunklen Gläser verbargen seine Augen.
Sie zuckte zusammen und befeuchtete sich die rissigen Lippen mit der Zunge. »Sie waren in der Bar.«
»Ja.«
Wenn sie im Moments nicht so darauf bedacht gewesen wäre, ihn zu ignorieren, hätte sie gemerkt, dass er ein Freak war. »Sie haben mir etwas in den Wein getan.«
»Ja.«
»Warum?«
»Es macht dich vernünftiger.« Mit einer behandschuhten Hand schob er ihr Oberteil hoch und entblößte ihren flachen Bauch.
»Was tun Sie da?« Sie bebte vor Angst.
Sanft strich er ihr über die weiße Haut. »So hübsch und rein. Aber wir beide wissen, dass du nicht rein bist, nicht wahr?«
»Ich bin ein guter Mensch.«
»Nein, das bist du nicht.«
Ihre Gedanken überschlugen sich. Dring zu ihm durch. Mach diesem Verrückten klar, dass du ein Mensch bist. »Ich habe eine Familie. Eltern. Ein Kind.«
Er ließ den Zeigefinger um ihren Bauchnabel kreisen. »Die hast du alle schon lange nicht mehr gesehen. Die wollen nichts mehr von dir wissen.«
Die Worte wühlten sie auf. Er hatte recht. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Sie rang um die richtigen Worte, die ihr Aufschub verschaffen würden. »Da oben war jemand! Er weiß, dass Sie hier sind. Dass ich hier bin.«
»Er ist gefesselt wie ein Schwein vor der Schlachtung. Ich werde mich um ihn kümmern, wenn ich mit dir fertig bin.«
Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. »Bitte lassen Sie mich gehen.«
Amüsiert zog er die Brauen hoch. »Ist das nicht witzig? Dass ausgerechnet heute Abend jemand in dieses Haus einbricht. Wirklich schlechtes Timing.« Um seinen Bart zuckte ein Lächeln. »Schrei nur, wenn du willst.«
Ihr Herz trommelte gegen ihre Rippen wie ein rasender Güterzug. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich werde nicht schreien.«
Der Mann legte den Kopf schief. »Wieso nicht? Du hast allen Grund zu schreien.«
Oh Gott. Bitte. »Ich werde nicht schreien.«
Das Lächeln wurde breiter und entblößte kleine, gelbliche Zähne. »Das werden wir ja sehen.«
Vor Angst blieben ihr die Worte schier im Hals stecken. »Was wollen Sie?«
»Dich.«
»Warum? Ich bin niemand. Das haben Sie doch selbst gesagt. Meine Familie will nichts von mir
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