Das Flüstern der Schatten
weinen.
Richard Owen saß an ihrer Seite auf dem Sofa und rutschte unruhig hin und her. Die Tränen seiner Frau waren ihm sichtlich unangenehm. Er wollte einen Arm um ihre Schultern legen, doch sie schüttelte sich kurz, und er zog ihn wieder zurück. Er warf Paul einen Blick zu, der wohl so etwas wie männliche Komplizenschaft andeuten sollte. Paul schaute weg.
»Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen, Honey.«
Lange hatte Paul nicht mehr soviel Hilflosigkeit in einer Stimme gehört.
»Michael ist dreißig Jahre alt. Er ist ein erwachsener Mann. Bestimmt ruft er in den nächsten Stunden an und wird alles aufklären.«
Es klang nicht sehr überzeugt, fand Paul und überlegte, wie er helfen könnte. Zur Polizei in Hongkong hatte er keine Kontakte mehr. Die beiden britischen Inspektoren, die er gekannt hatte, waren kurz nach der Rückgabe der Kolonie an China mehr oder weniger freiwillig in Frühpension gegangen und nach England zurückgekehrt. Blieb nur noch Kommissar David Zhang von der Mordkommission in Shenzhen.
Falls einem Ausländer dort etwas zugestoßen war, würde er davon wissen.
»Ich habe einen Freund bei der Polizei in Shenzhen. Den rufe ich an und melde mich heute Nachmittag oder morgen früh bei Ihnen«, sagte Paul. »Viel mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun.«
Elizabeth nickte dankbar, und ihr Mann leerte in einem Zug sein Whiskeyglas. Dann schwiegen sie sich noch eine Weile an, bevor sie sich verabschiedeten. Die Owens schlichen zu den Fahrstühlen, die Köpfe gesenkt, ihre Bewegungen waren langsam, Paul hatte den Eindruck, dass Richard Owen das linke Bein etwas nachzog, und für einen Moment erschien ihm dieser Hüne sehr klein.
Er verließ das Hotel, schlenderte zur nahe gelegenen Hafenpromenade und setzte sich in den Schatten auf eine Bank. Die Bitte von Frau Owen überforderte ihn völlig, und doch hatte er sie ihr nicht abschlagen können. Dazu war ihm ihre Angst zu vertraut. Trotzdem scheute er sich, David anzurufen; sie hatten zwar erst gestern Morgen ein paar Minuten telefoniert, aber ihn jetzt nach dem Verbleib eines jungen Ausländers zu fragen, kam Paul merkwürdig, ja fast lächerlich vor, ohne dass er genau wusste, warum. Außerdem wollte er sich nicht einmischen, nirgendwo. Vielleicht hatte Christine einen Rat, nicht oft, aber manchmal genügte eine Frage, eine kurze Bemerkung von ihr, um etwas Ordnung in seine Gedankenwelt zu bringen.
»Paul?« Sie musste seine Nummer auf ihrem Telefon erkannt haben. In ihrer Stimme war die Überraschung und Freude nicht zu überhören.
»Ja, ich bin es. Ist es der falsche Moment? Soll ich später noch einmal anrufen?« Was für eine dämliche Frage, dachte er sofort. Er wusste aus ihren Erzählungen, dass ihr Reisebüro WorldWideTravel aus einem winzigen Büro bestand, welches sie sich mit zwei Angestellten teilte und in dem von morgens bis abends die Telefone klingelten. Im Hintergrund hörte er mehrere Frauenstimmen, dazwischen läutete es fast ohne Pause.
»Nein, du störst nicht. Kannst du einen Moment warten, bitte.« Sie fragte den Kunden auf der anderen Leitung nach seiner Nummer und versprach, ihn in wenigen Minuten zurückzurufen.
»Wo bist du? Auf Lamma? Es ist so laut im Hintergrund.«
»Nein. Ich sitze am Hafen vor dem Inter-Continental.«
»Wo?« Ihre Stimme klang für einen kurzen Moment mehr überrascht als verletzt. Im nächsten Satz hörte Paul deutlich ihre Kränkung, auch wenn sie sich bemühte, diese zu unterdrücken. »Was machst du da? Ich dachte, du wolltest allein sein.«
Christine hatte ihn für heute zum Abendessen eingeladen. Sie glaubte, Ablenkung täte ihm gut, Paul war ganz anderer Meinung, er empfand ihre Einladung als ein Zeichen mangelnder Sensibilität. Er wollte nicht abgelenkt werden, genau darum ging es. Er wollte nicht beschäftigt sein, wollte nicht, dass die Zeit schneller vergeht. Die Zeit war, je schneller sie verging, ein Feind der Erinnerungen. Sie ließ sie verblassen.
»Wollen wir uns treffen?«, fragte Christine vorsichtig. »Für einen Kaffee hätte ich Zeit.«
»Wo?«
»Hier in Wan Chai. Ich hole dich von der MTR ab, damit du dich in dem Menschengewühl nicht verläufst.«
»Ich weiß nicht.« Je mehr Worte sie wechselten, umso unwohler fühlte er sich. Es war immer dasselbe. Sie konnte ihm nicht helfen, weshalb hatte er sie überhaupt angerufen?
»Oder wir treffen uns später und...«
»Nein«, unterbrach er sie. »Ich glaube, ich fahre lieber zurück nach
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