Das Flüstern der Schatten
erloschen. Davids wiederholte Einladungen, ihn zu besuchen oder mit ihm mal wieder nach Shanghai oder Peking zu reisen, hatte er in den vergangenen Jahren immer ausgeschlagen. China bewegte ihn nicht mehr sonderlich. Oder? Vor ein paar Stunden hätte er diesen Satz noch mit größerer Überzeugung gesagt.
Paul stand auf, überlegte, welches Hotel er zu Fuß am besten erreichen konnte, und ging langsam die leere Straße entlang Richtung Mandarin Oriental.
Das leise Rauschen einer Klimaanlage, ein sanft brummender Kühlschrank und ein Handy, das irgendwo unaufhörlich klingelte. Paul öffnete die Augen und suchte nach seinem Moskitonetz. Es dauerte einige lange Sekunden, bis er wusste, wo er war. Das Handy verstummte, nur um nach kurzer Zeit erneut zu klingeln. Er betrachtete mit verschlafenen Augen das Display: Die Nummer kannte er nicht, es war weder die von Christine noch die von David. Vermutlich die Owens. Paul stellte sein Telefon auf lautlos, er wollte mit niemandem sprechen, am wenigsten mit den Owens. Der Wecker zeigte 7:15. Ein stechender Schmerz zog durch seinen Kopf, der ganze Körper tat weh, als hätte er gestern zu viel Alkohol getrunken. War er noch in der Hotel-Bar gewesen? Er konnte sich an nichts erinnern, drehte sich um, zog die leichte Decke bis ans Kinn und schlief wieder ein.
Als er das zweite Mal erwachte, fühlte er sich noch schlechter. Die Kopfschmerzen waren zwar verschwunden, dafür hatte er das Gefühl, jemand hätte ihm die Brust zugeschnürt. Er versuchte ruhig zu liegen und bekam trotzdem kaum Luft. Ihm war heiß, obgleich er die ganze Nacht wegen der Klimaanlage und der viel zu dünnen Decke leicht gefroren hatte. Er hatte Angst. Angst vor dem Gespräch mit Elizabeth Owen. Angst vor zu vielen Eindrücken. Angst vor zu vielen Stimmen. Geräuschen. Gerüchen. Menschen. Er spürte, wie diese Angst mit jedem Moment, den er allein in diesem fremden Bett, in diesem fremden Zimmer verbrachte, größer wurde.
Er stand auf und rief Christine an. Ihre Stimme beruhigte ihn ein wenig. Ja, sie hatte Zeit, für ihn immer, in einer Stunde konnte er sie zum Mittagessen abholen.
Paul ging zum U-Bahn-Eingang am Statue Square, er wollte die MTR nach Wan Chai nehmen, aber je tiefer er in die Schächte hinabstieg, desto unwohler fühlte er sich. Als er die auf den Zug wartenden Menschenmassen sah und von hinten die ersten Ellbogen in den Rücken gestoßen bekam, kehrte er um und hastete zurück auf die Straße. In der Straßenbahn war ein Sitzplatz in der ersten Reihe des Oberdecks frei, er hielt den Kopf aus dem Fenster, der Fahrtwind trocknete den Schweiß auf seiner Stirn.
Das Treppenhaus der Johnson Road 142 war noch enger und schmutziger, das Büro von WorldWideTravel noch kleiner, als er es sich nach Christines Beschreibung vorgestellt hatte. Sie saß mit ihren zwei Mitarbeiterinnen vor drei Computerbildschirmen, alle drei trugen Kopfhörer, waren in Kundengespräche vertieft und redeten laut durcheinander, um die im Hintergrund rumpelnde Klimaanlage zu übertönen. Auf den Tischen stapelten sich Kataloge, Broschüren, Rechnungen und Tickets. An den Wänden hingen vergilbte Blätter eines Kalenders der Cathay-Pacific-Fluggesellschaft mit Photos von Pagoden in Japan, Thailand, Sri Lanka und Vietnam. Der Raum hatte keine Fenster, und Paul fragte sich, wie Christine diese Enge und diesen Krach den ganzen Tag aushielt. Sie deutete ihm, sich zu setzen, aber auf dem einzigen Stuhl lagen Zeitungen und Bücher, sie lächelte, und plötzlich erschienen ihm seine Ängste wie ein Spuk, der jeden Moment vorüber sein würde.
Christine führte ihn in ein Dim-Sum-Restaurant nicht weit von ihrem Büro. Sie wand sich so schnell und geschickt durch das Gedränge der eilenden Menschen auf den überfüllten Bürgersteigen, dass Paul ihr nur mit Mühe folgen konnte.
Das Lokal hatte die Ausdehnung eines Fußballfeldes und die Geräuschkulisse eines Rock-Konzertes. Jeder Tisch war besetzt, und kaum stand jemand auf, stürzten sich Wartende auf die freien Plätze, als gäbe es an diesem Tisch etwas umsonst. Nach einer kurzen Diskussion zwischen Christine und dem Platzanweiser führte ein Kellner sie vorbei an einer Reihe Aquarien in den hinteren Teil des Restaurants an einen der wenigen Tische für zwei Personen. Christine kreuzte auf einer Karte die Bestellungen an, und Paul erzählte in ein paar Sätzen, was in Shenzhen geschehen war und von dem Anruf, den er nun bereits seit mehreren Stunden vor sich
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