Das Flüstern der Schatten
noch so bescheidene Anerkennung war verbunden mit öffentlicher Selbstkritik. Die letzte Beförderung lag 15 Jahre zurück. Die offiziellen Gründe dafür waren sein buddhistischer Glaube oder eigentlich eher die Tatsache, dass er sich öffentlich dazu bekannte, und seine Weigerung, trotz mehrerer Aufforderungen der Kommunistischen Partei wieder beizutreten, nachdem sie ihn in den achtziger Jahren während einer Säuberungsaktion gegen »spirituelle Verschmutzung« ausgeschlossen hatten. Beides hätten sie ihm vermutlich noch verziehen. Was ihn in den Augen seiner Vorgesetzten jedoch gänzlich für höhere Aufgaben diskreditierte, war seine Redlichkeit. David Zhang weigerte sich nicht nur beharrlich, Schutzgelder von Restaurants, Bars, Hotels, Geschäften oder illegalen Arbeitern zu erpressen, er lehnte sogar höflich, aber bestimmt die Umschläge mit Bargeld, die Zigaretten, den Whiskey und all die anderen Geschenke zum chinesischen Neujahr ab. Selbst seine Mittagssuppen in den Straßenrestaurants rund um das Präsidium zahlte er selbst. Eine Ehrlichkeit, die in der Familie Zhang häufig zu Streit führte. Das einfache Gehalt eines Kommissars und der Lohn einer Sekretärin, auch wenn sie, wie Mei, in der Niederlassung eines ausländischen Konzerns arbeitete, genügten nicht, um von all den Verheißungen der neuen Zeit zu profitieren, vor allem nicht, wenn man davon noch die Eltern in Sichuan und den Bau eines buddhistischen Tempels unterstützen wollte. Es reichte nicht für eine Eigentumswohnung. Es reichte nicht für ein Auto. Es reichte nicht einmal für einen regelmäßigen Einkaufsbummel in einer der neuen Malls mit ihren vielen ausländischen Marken. Der Computer im Hause Zhang war nur ein chinesisches Fabrikat. Die Videokamera, der digitale Fotoapparat, der Fernseher ebenso. Meis Prada-Täschchen und der Chanel-Gürtel waren Plagiate der billigsten Sorte, genauso wie die Adidas Schuhe, die Levis Jeans und der Puma Trainingsanzug ihres Sohnes. Mit der Zeit raubenden Suche nach Schnäppchen, mit den primitiven Raubkopien im Haus konnte Mei sich arrangieren, was sie aber ihrem Mann nicht verzieh, war der Umstand, dass sie ihren Sohn nicht auf eine der vielen neuen Privatschulen schicken konnten. Von den fünf Sekretärinnen in ihrer Abteilung war sie die einzige, die ihrem Kind keinen privaten Unterricht ermöglichte. Die einzige! Ob er eigentlich verstehe, was das hieß? Was für ein Gesichtsverlust! Wer sich eine der teuren Schulen nicht leisten konnte, brachte sein Kind wenigstens am Nachmittag oder Abend in eines der privaten Fremdspracheninstitute, damit es ordentlich Englisch lernte oder wenigstens ein Diplom erhielt, das dieses behauptet. Aber nicht einmal dafür reichte das Geld. Nicht einmal für ein beschissenes, zweitklassiges Diplom.
Warum musste der 15-jährige Zheng unter den moralischen Ansprüchen leiden, die sein Vater an sich selbst stellte? Was glaubte er eigentlich, welche Art von Job ihr Sohn später bekommen würde? Er könne ja gern den Helden spielen, aber nicht auf Kosten der Familie. Es lag in der väterlichen Verantwortung, für die bestmögliche Ausbildung des Sohnes zu sorgen, das habe schon Konfuzius gefordert, erinnerte Mei ihren Mann früher mehrfach. Da David den Gelehrten nicht als Autorität für solche Fragen akzeptierte, vergrub sie sich wochenlang in die Schriften des Buddha, um dort eine Stelle zu finden, die ihren Mann zur Vernunft bringen könnte. Leider erwies sich Siddharta als völlig ungeeignet, um die illegale Annahme von Geld und Geschenken im Namen eines höheren Gutes zu rechtfertigen. Im Gegenteil, die ständige Erwähnung von Gier und Habsucht als Ursachen menschlichen Leids bestärkte Mei einmal mehr in ihrer Ansicht, dass sich diese Religion in China niemals durchsetzen werde und ihr Mann mit seinem Glauben ein arger Sonderling sei. Sie konnte nur an sein Verantwortungsgefühl und seinen gesunden Menschenverstand appellieren, er solle ihr erklären, wer bitte schön einen Schaden davontragen würde, wenn er lediglich das machte, was alle anderen in seiner Position auch machten: sich für seine Arbeit angemessen bezahlen zu lassen, und wenn die Regierung nicht genug zahle, dann müsse man eben auf anderen Wegen sein Auskommen sichern. Darauf hatte er ihr früher immer mit einem langen Monolog geantwortet, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts, was ein Mensch in seinem Leben tut, ohne Konsequenzen bleibt und dass wir persönlich, keine Regierung, keine
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