Das Flüstern der Schatten
Zeit in den meisten Fällen auf der Seite der Täter.«
»Ich weiß«, flüsterte Paul ins Telefon.
»Was hast du gesagt?«
»Ich weiß«, wiederholte er etwas lauter.
»Kannst du den Leuten mal sagen, sie sollen aufhören, mit ihren Tellern zu klappern. Warum müssen Chinesen beim Essen immer so schreien? Ich versteh kein Wort.«
Verstand er ihn wirklich nicht, oder war das nur Davids Art, ihm zu sagen, er solle die Owens endlich anrufen?
»Ich weiß, dass ich mit ihnen reden muss«, sagte er laut und deutlich.
»So klingt es viel besser. Richtig entschlossen.«
»Hat es Zeit bis nach dem Essen?«
»Je früher desto besser. Weißt du, ob Michael Owen in Hongkong eine Wohnung hat?«
»Nein, aber ich nehme es an.«
»Kannst du seine Mutter fragen, und falls er eine hat, sie dir, wenn es geht, heute noch anschauen?«, fragte David.
»Wie soll ich das denn machen?«
»Seine Mutter hat bestimmt einen Schlüssel. Denk dir einen Vorwand aus.«
»Wonach soll ich dort suchen?«
»Falls er wirklich ermordet wurde, gibt es in der Wohnung vermutlich Hinweise, warum er vor zwei Tagen nach Shenzhen gefahren ist, mit wem er verabredet war, ob er Freunde oder Bekannte in der Stadt hatte. Und selbst wenn er nicht der Tote ist, so bleibt er doch verschwunden. Vielleicht hat er sich von der Tsing Ma Brücke gestürzt und einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Wenn er der Ermordete ist, sollte dann nicht lieber die Hongkonger Polizei die Wohnung durchsuchen?«
»Das wird sie schon noch. Ich möchte aber, dass wir die Ersten sind, die sie sich anschauen. Ich erkläre dir später, warum. Hast du eigentlich Meis Handynummer?«
»Ja.«
»Rufst du mich in dieser Sache ab jetzt darauf an?«
»Warum denn das?«, entfuhr es Paul.
»Erklär ich dir später. Meldest du dich, sobald du etwas weißt?«
»Ja.«
»Dann, guten Appetit.«
Paul schaltete sein Telefon aus und steckte es in seine Jackentasche. Am liebsten hätte er es in der süßsauren Suppe versenkt, die vor ihm stand. Er wollte die Owens nicht anrufen. Jetzt nicht. Später nicht. Er wollte nicht wissen, wessen Kind der tote junge Mann ist. Noch viel weniger wollte er dessen Eltern die Nachricht überbringen müssen, dass sie ihren Sohn verloren haben. Er wollte von diesem Leid, diesem Schmerz, nicht berührt werden. Er wollte überhaupt nicht berührt werden. Er wollte mit Christine essen, dann, wo er schon einmal in der Stadt war, ein paar Einkäufe erledigen und dann nach Lamma zurückkehren. Dort warteten sein Haus, seine Pflanzen, Justins Gummistiefel auf ihn. Er wollte die ganze Geschichte vergessen.
Bis zur Sonne und wieder zurück.
Paul nippte am Tee, zog die Essstäbchen aus der Papiertüte und nahm sich eine Teigtasche, gefüllt mit Gemüse. Besser als erwartet, dachte er bei sich. Was hatte er mit den Owens zu tun? Er tunkte ein gedämpftes Shrimp Dim Sum in die rote Chili-Soße. Wunderbar. Was ging ihn der Tote in Shenzhen an? Die gefüllten Röllchen aus Reisteig waren etwas verkocht, und der Teig war zu dick. Schade. Dafür war der Jasmintee außergewöhnlich gut, kräftig, aber nicht bitter. Christine hatte Recht: sich raushalten. Nicht weiter einmischen. Nur einen einzigen Anruf noch.
Christine hatte das Gespräch verfolgt und saß ihm nun kerzengerade gegenüber, ohne das Essen anzurühren.
»Hast du keinen Hunger?« Er hörte sich selbst die Frage stellen, hörte, wie albern er klang, wie lächerlich er sich machte. Als wenn er nicht ahnte, was in ihr vorging.
»Nein«, sagte sie knapp.
»Ich werde deinen Rat befolgen. Die Geschichte ist eine Sache für die Polizei.«
»Meinst du das im Ernst?«
Paul nickte.
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Christine nahm ein mit gegrilltem Schweinefleisch gefülltes Brötchen. Bessere gab es in ganz Hongkong nicht.
Paul lief durch die engen Gassen von Wan Chai auf der Suche nach einem Ort, von wo aus er die Owens anrufen konnte. Aber ganz gleich, in welche Straße er einbog, in welchen Hausflur er sich stellte, in welchem Coffee-Shop er Zuflucht suchte, das Dröhnen von Presslufthämmern, von Baumaschinen, Autos und Bussen, das Stimmengewirr der Passanten und Straßenverkäufer machten ein solches Gespräch unmöglich. Er dachte an das Grand Hyatt Hotel mit seiner großen, weitläufigen Halle, dort müsste er in einer abgelegenen Ecke der Lobby die nötige Ruhe finden. Paul überquerte die Lockhart Road und die Gloucester Road, der Weg führte an der Einwanderungsbehörde und dem Wanchai Tower
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