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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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vorbei direkt zum Hotel.
     
    »Herr Leibovitz, ich habe schon so oft versucht, Sie zu erreichen. Wo waren Sie nur?«
    »Entschuldigung... ich... mein Handy...«
    Elizabeth Owen wartete seine Erklärung gar nicht erst ab.
    »Haben Sie mit Ihrem Bekannten in Shenzhen gesprochen?
    Wissen Sie etwas über meinen Sohn?«
    »Nein.« Paul hatte keine Ahnung gehabt, wie schwer ihm diese Lüge fallen würde. Er hatte geglaubt, diese vier Buchstaben aussprechen und kurz darauf auflegen zu können. Stattdessen hallten sie durch seinen Kopf wie dunkle, dumpfe Trommelschläge, die nicht verklingen, sondern immer lauter werden. NEIN. Du Feigling.
    »Das heißt, natürlich habe ich mit meinem Freund gesprochen, ich meine, mehrmals sogar, und er hat mit Kollegen gesprochen, aber von einem Michael Owen hat niemand etwas gehört.« Nicht schwindeln, Papa, sag die Wahrheit. »Also, das ist ja eigentlich ein gutes Zeichen, oder?«
    Elizabeth Owen schwieg.
    Paul hörte nichts als ein leises Rauschen, und weil er die Stille nicht ertrug, redete er weiter. »Ich bin mir sicher, es wird sich alles aufklären, Ihr Sohn wird heute oder morgen wieder auftauchen, und mein Freund in Shenzhen hat mir versprochen, mich anzurufen, sobald er etwas hört. Wie sieht er überhaupt aus?«
    »Wer?«
    »Na, Ihr Sohn.«
    »Groß. Blonde Haare, blaue Augen, ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll.«
    »Hat er irgendwelche besonderen Kennzeichen?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Besondere Merkmale. Einen Leberfleck auf der Stirn oder so etwas.«
    »Nein.«
    »Eine Narbe auf der Wange?«
    »Nein.«
    »Keine alte Wunde oder Verletzung?«
    »Nein.«
    »Von einem Autounfall vielleicht? Ein Sturz mit dem Fahrrad?«
    »Nein.«
    Paul erhob sich aus seinem Sessel. Er musste sich bewegen, er musste die Erleichterung, die er fühlte, irgendwie ausdrücken und ging, das Telefon fest ans Ohr gedrückt, mit wippenden Schritten auf und ab.
    »Das ist großartig.«
    »Michael war immer ein sehr gesunder Junge.«
    »Das freut mich. Das freut mich unglaublich. Dann bin ich sicher, dass sich bald alles aufklären wird, Frau Owen.«
    »Er hat immer viel Sport gemacht.«
    Mehr wollte Paul nicht wissen.
    »Er war ein sehr, sehr guter Sportler, wissen Sie. In der High School war er der Kapitän der Footballmannschaft.«
    Paul wollte das Gespräch beenden. Ein Knopfdruck würde genügen.
    »Er hatte sogar ein Sport-Stipendium für die Florida State University.«
    Phantastisch. Ein toller Bursche, kein Zweifel. Warum konnte die Geschichte damit nicht enden? Er wollte nichts weiter hören.
    »Frau Owen, ich melde mich sofort, falls ich von meinem Freund aus Shenzhen noch etwas Neues erfahre. Okay?«
    »Florida State. Sie wissen doch, was das heißt. Florida State! Die hat eine der besten Footballmannschaften in ganz Amerika. Aber dann passierte dieser dumme Unfall. Danach konnte er nie wieder richtig Football spielen.«
    »Was für ein Unfall?«, entfuhr es Paul.
    »Ein Mitspieler hat ihn beim Training sehr unglücklich getroffen, es war keine Absicht, aber Michael rissen dabei die Bänder. Er musste dreimal operiert werden.«
    »Wo?«
    »Am Knie.«
    »Am Knie? An welchem Knie?«
    »Am linken. Warum fragen Sie? Hallo? Herr Leibovitz? Sind Sie noch da?«
     
    Michael Owens Wohnung lag im 38. Stock des Harbour View Court, einer dieser typischen Wohnanlagen in den Mid-Levels von Hongkong mit ihren einförmigen Hochhäusern, in denen die immer gleichen Appartments wie kleine Schuhkartons aufeinandergestapelt waren. In der Lobby wartete Elizabeth Owen bereits auf ihn. Schon im Taxi hatte er gespürt, wie sein Herz immer heftiger schlug und er kalte, feuchte Hände bekam. Wie sollte er ihr begegnen? Er hatte ihr am Telefon nichts gesagt und er wollte ihr auch jetzt nichts sagen. Das war nicht seine Aufgabe. Sollte das die Polizei oder der amerikanische Konsul in Hongkong oder wer auch immer erledigen. Er war in die Robinson Road gefahren, weil ihn David um einen Gefallen gebeten hatte, er würde sich die Wohnung anschauen, seinem Freund davon berichten und dann die nächste Fähre nach Lamma nehmen.
    Sie musterte ihn von oben bis unten, ließ ihn auf dem Weg durch die Halle und im Fahrstuhl nicht aus den Augen. Als könnte irgendeine seiner Bewegungen, seiner Gesten Aufschluss über den Verbleib ihres Sohnes geben. Wusste sie, dass er gelogen hatte? Sah sie es an der Art, wie er ihrem Blick auswich, wie er im Lift, wo sie schweigend nebeneinanderstanden, auf seine Schuhe blickte?

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