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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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herschob.
    »Was möchtest du von mir hören? Einen Rat?«
    Ihre Stimme hatte alle Leichtigkeit verloren, sie klang streng und angespannt.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Paul leise. »Vielleicht.«
    »Ich würde diese Leute anrufen, sagen, dass du bedauerlicherweise nichts für sie tun kannst, und damit ist die Sache erledigt. Um den Rest kann sich die Polizei in Hongkong oder Shenzhen oder die amerikanische Botschaft in Peking kümmern. Du hast damit nichts zu tun. Ich würde mich da raushalten.«
    Sie blickte Paul mit schmalen, aufeinander gepressten Lippen an. Sie hatte viel schärfer geklungen, als es ihr vermutlich lieb war, aber sie konnte nicht anders, Paul war dankbar, dass sie gar nicht erst versuchte, sich zu verstellen. Er kannte ihre Geschichte und wusste, dass sie den Festlandschinesen nicht traute. Wie könnte sie auch nach allem, was ihrer Familie angetan worden war? Jeden Versuch würden die Stiefel der Rotgardisten übertönen, die knarrenden Stufen, das zersplitternde Holz der eingetretenen Tür, die Todesangst im Gesicht ihres Vaters. Der Sprung aus dem Fenster. Ein Unfall sei es gewesen. Ein Unfall! Das behaupten sie noch heute, fast vierzig Jahre später. Wie sollte sie ihnen da irgendetwas glauben? Wenn es für sie eine Möglichkeit gegeben hätte, wäre sie vor 1997 nach Kanada, Amerika oder Australien ausgewandert. Sie wollte nicht wiedervereinigt werden. Ihre Familie war nicht 1967 aus China nach Hongkong geflohen, um dreißig Jahre später doch von Peking beherrscht zu werden. Natürlich, es war viel Zeit vergangen, angeblich hat die Regierung von damals nichts mehr mit der von heute zu tun, sie kennt die Argumente, sie kennt sie alle, sie hat sich oft genug mit ihren Freundinnen gestritten, hat versucht zu erklären, was vielleicht nicht zu erklären ist. Aber es regiert noch immer dieselbe Partei, und diese Partei hat sich niemals für die Verbrechen, die sie begangen hat, beim Volk entschuldigt. Solange das Porträt von Mao Tse-tung über dem Eingang zur Verbotenen Stadt hing, solange der Leichnam dieses Mörders einbalsamiert in einem Mausoleum auf dem Platz des Himmlischen Friedens lag, solange dort die Menschen in Schlangen warteten, um ihm ihre Ehre zu erweisen, solange wird sie der KPD nicht trauen. Erst wenn dieses Mausoleum verschwunden ist und an seiner statt dort ein großes Mahnmal für die Opfer der Kommunistischen Partei steht und der Vorsitzende dieser Partei davor auf die Knie fällt und das Volk um Vergebung bittet für die Fehler und Irrtümer dieser Partei und die Millionen von Leben und zerstörten Familien, die diese Fehler und Irrtümer gekostet haben, erst dann wäre sie bereit dieser Partei, dieser Führung, Vertrauen zu schenken. Oder zumindest darüber nachzudenken. Vorher wird sie nicht eine der Mandarinschulen besuchen, die es in Hongkong jetzt an jeder Ecke gibt. Wird sie keine Reisen dorthin organisieren und nicht nach China fahren. Einmal hatte sie es versucht und den Zug Richtung Shenzhen genommen. Sie war immer nervöser geworden, je näher sie der Volksrepublik gekommen war. Am Ende hatte sie mit vor Angst rasendem Herz an der Grenze zum Land ihrer Geburt gestanden. Hatte die Stimmen ihrer Eltern gehört. Die Stimmen ihrer Großeltern. Nach langem Hadern war sie umgekehrt. Weil die Schatten der Vergangenheit zu lang waren. Weil das Flüstern nicht verstummte.
    Paul schwieg. Er ärgerte sich, dass er sie überhaupt gefragt hatte.
    »Es tut mir leid, was ich sage, klingt sehr egoistisch und war vielleicht nicht, was du hören wolltest.«
    Als zwei Kellner die ersten Bambuskörbchen mit gefüllten Teigtaschen brachten, klingelte Pauls Telefon. Es war David.
    »Hallo Paul. Hast du die letzte Fähre noch bekommen?«
    »Nein, ich habe im Hotel geschlafen.«
    »Das tut mir leid.«
    »Muss es nicht. Es war das Mandarin Oriental, das liegt gleich beim Fähranleger.«
    »Wo steckst du jetzt? Es klingt, als wenn du in einer Restaurantküche angeheuert hättest.«
    »Ich sitze mit Christine in Wan Chai und esse Dim Sum.«
    »Dann will ich es kurz machen. Hast du schon mit den Owens gesprochen?«
    »Nein.«
    David schwieg für einen Moment. »Ich weiß, dass das kein angenehmes Gespräch ist.« Seine Stimme klang zwar nicht formell, aber der Kommissar darin war nicht zu überhören. »Aber ich muss so schnell wie möglich wissen, ob dieser Tote Michael Owen ist. Selbst wenn es heute Nachmittag heißt, er sei an einem Herzversagen gestorben. Bei einem Mord ist die

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