Das Flüstern der Schatten
Partei, kein Chef, dafür verantwortlich sind.
Seit einiger Zeit antwortete er auf ihre Frage nur noch mit der Behauptung, er, David Zhang, würde Schaden nehmen, wenn er sich bestechen ließe, schließlich wolle er kein schlechtes Karma und müsse an seine Wiedergeburt denken. Wer möchte schon als Schlange oder Japaner auf die Welt kommen. Der leicht spöttische Ton in seiner Stimme verriet ihr, dass Widerspruch sinnlos war.
Es waren lange, zähe, fruchtlose Streits, die damit endeten, dass Mei tagelang mit ihrem Mann nicht sprach. Vermutlich hätte sie sich längst von ihm getrennt und eine der vielen Avancen ihrer deutschen Chefs angenommen, wenn Davids Starrköpfigkeit, seine Ehrlichkeit, sein Mut, seine Unbeugsamkeit nicht auch genau die Eigenschaften gewesen wären, die sie am meisten an ihm liebte. Sie konnte ihm nicht wirklich böse sein. Auch heute nicht. Er sah es in ihren Augen, auch wenn diese ihn gerade ärgerlich anschauten. Auf Mei war Verlass, und dieses Wissen gab ihm die Kraft, den Anfeindungen und den Versuchungen im Präsidium zu widerstehen.
Er beobachtete Paul, wie er die Schüssel mit dem Ma-po Tofu auskratzte und ihn von der Seite dankbar anlächelte. Es war schön, ihn mal wieder hier in dieser Küche sitzen zu sehen. Mei verstand nicht, warum Paul sich so zurückgezogen hatte, sie meinte, er hätte das Gegenteil tun sollen, sich nicht abwenden, sondern hineinstürzen ins Leben, bis es ihn und seinen Schmerz verschlingt. David hingegen bewunderte seinen Freund für die Konsequenz, mit der er um seinen Sohn trauerte, wie er sich die Zeit nahm, der es bedurfte, auch wenn er darüber alt werden würde.
Paul blickte auf die Uhr und erschrak. Es war spät geworden, kurz vor halb elf, und er wollte unter keinen Umständen die letzte Fähre verpassen. Sie machten sich auf den Weg zur U-Bahn, überquerten gerade den Platz vor dem Einkaufszentrum, als Davids Mobiltelefon klingelte. Er klappte es auf, schaute auf den kleinen Bildschirm und nahm das Gespräch an. Seine Miene verfinsterte sich mit jedem Satz, den er hörte. Hin und wieder unterbrach er den Anrufer mit Fragen, dabei sprach er einen Dialekt aus der Provinz Sichuan, den Paul nicht verstand. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, wandte er sich wieder an seinen Gast.
»Entschuldigung, das war Wu, einer unserer Pathologen. Er kommt auch aus Chengdu und kocht den besten Ma-po Tofu, den ich kenne. Unglaublich. Er ist ein alter Freund von mir, und ich habe ihn gebeten, mich anzurufen, sobald er etwas weiß. Er ist zwar noch nicht fertig, aber die Geschichte mit dem eingeschlagenen Schädel stimmt. Außerdem wurde der linke Arm mehrmals gebrochen und die rechte Schulter ausgekugelt. Wer immer das Opfer ist, er hat sich seinen Mördern nicht kampflos ergeben. Den Rest wird Wu mir morgen erzählen.«
Sie liefen schweigend die westliche Shennan Road entlang zur U-Bahn.
»Soll ich dich zur Grenze bringen?«
»Danke, das schaffe ich schon allein. Sehe ich so müde aus?«, fragte Paul.
»Ja. Erschöpft.«
»Bin ich auch. War alles etwas viel für einen Einsiedler.«
David nickte verständnisvoll. »Kannst du mir trotzdem einen Gefallen tun? Wenn du morgen mit den Owens sprichst, frag sie bitte, ob sich ihr Sohn einmal das linke Knie verletzt hat?«
»Warum?«
»Der Tote hat eine große Narbe am linken Knie, vermutlich von einer Operation. Wu tippt auf einen Unfall oder eine Sportverletzung.«
VIII
Die Stimmen der Nacht waren nicht mehr als ein Flüstern. Das Wasser lag spiegelglatt im Schein der roten und blauen Neonreklamen, vereinzelt kreuzte eine Schute oder ein Schlepper durch das Becken. Winzige Wellen schlugen ermattet an die Mauern der Kais, als hätte sich der Hafen in einen verlassenen, windstillen See verwandelt. Die weißen Lichter in den Bürotürmen waren nach und nach fast alle erloschen, wie eine Festtagsbeleuchtung, bei der jemand behutsam Kerze für Kerze ausgeblasen hat. Selbst der am Tag unaufhörlich rauschende Verkehr war verstummt. Die Stunden nach Mitternacht waren eine Zeit, in der sich die sonst so ruhelose Stadt eine Pause gönnte.
Paul stand am Pier, von dem die Fähren zu den vorgelagerten Inseln ablegten, und überlegte, was er machen sollte. Das letzte Schiff hatte er verpasst. Um diese Uhrzeit war es unmöglich, noch ein privates Boot zu finden, das ihn nach Lamma bringen würde, und es gab niemanden, bei dem er übernachten konnte. Unschlüssig setzte er sich auf die Stufen, die zum Wasser
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