Das Flüstern der Schatten
hinunterführten. Er hatte im Zug geschlafen und fühlte sich nun auf eine seltsame Art hellwach, ja fast ein wenig überdreht und dabei nicht einmal unwohl. Die Luft war noch immer angenehm warm, statt nach Benzin roch es nach Meer und der feuchten, süßlich-schweren Luft der Tropen. Nach Leben. Er überlegte, was es sein könnte, das ihn so aufregte. Die Vielzahl der Eindrücke der vergangenen Stunden? Die Freude, die er jedes Mal empfand, wenn er David und Mei sah? Beschäftigte ihn das Schicksal Michael Owens mehr, als er sich eingestehen wollte? Oder waren es die Gerüche, die Musik der Straße, die Gesichter, die Blicke in Shenzhen, die anders waren als in Hongkong, die ihn so stimulierten? Die in ihm Erinnerungen weckten, von denen er geglaubt hatte, sie wären so tief verschüttet, dass zwei Leben nicht reichten, um sie wieder auszugraben.
China! Die andere Seite der Welt. Die bessere. Die gerechtere.
In einem deutschen Kinderbuch hatte er als Achtjähriger zum ersten Mal von Li Si und ihrem Vater, dem Kaiser von Mandala gelesen, und die kleine Prinzessin war das erste Mädchen gewesen, in das er sich verliebt hatte. In ihrem Land lebte ein Scheinriese, und es wuchsen wunderbare Bäume und Blumen in den seltsamsten Formen und Farben, die alle durchsichtig waren. Pflanzen aus Glas! Dort gab es Flüsse, über die sich Brücken aus Porzellan schwangen! Manche dieser Brücken hatten seltsame Dächer, daran hingen Tausende von kleinen Glocken aus Silber, die bei jedem Windstoß klingelten und im Morgenlicht glitzerten. In der Hauptstadt Ping wimmelte es auf den Straßen von Haarzählern, Ohrenputzern, Zauberkünstlern, Akrobaten und hundert Jahre alten Elfenbeinschnitzern, die ihr ganzes Leben lang an einem Werk arbeiteten. Fortan träumte er davon, nach Mandala zu reisen, und als sein Vater ihm erklärte, dass es dieses Land gar nicht gebe, dass wohl China gemeint sei, ein riesiges Reich am anderen Ende der Welt mit einer großen Mauer drum herum und einer geheimnisvollen Verbotenen Stadt, in der früher die Kaiser lebten, war es eben China, wohin der kleine Paul Leibovitz fahren wollte.
Dort war das Leben, wonach er sich sehnte. In China waren die Menschen kleiner und nicht so kräftig, dort gab es keine Kinder, die ihn um einen Kopf überragten und zwangen, ihre ausgelutschten Kaugummis zu essen. In China interessierte es niemanden, ob sein Vater Jude war oder seine Mutter Deutsche. In China stritten sich die Eltern nicht, und es war ganz leicht, Freunde zu finden. In China waren die Menschen überhaupt viel freundlicher und ehrlicher und klüger, schließlich hatten sie nicht umsonst das Schießpulver, das Papier und den Kompass erfunden.
China! Allein das Wort übte auf ihn als Jugendlichen eine magische Anziehungskraft aus. Er entdeckte voller Bewunderung die chinesischen Schriftzeichen, fuhr mit dem Finger wieder und wieder über das Papier, zeichnete mit langsamen, ehrfurchtsvollen Bewegungen diese seltsamen Linien nach. Was war das für ein Land, in dem die Menschen kleine Bilder malten, anstatt Buchstaben wie A oder Z zu benutzen? In dem derselbe Laut ganz verschiedene Bedeutungen haben konnte, je nachdem, in welcher Tonlage er ausgesprochen wurde. In New York fuhr er an den Wochenenden, wenn die anderen Jungs Baseball spielten, nach Chinatown, lungerte zwischen den Gemüse- und Fischständen herum, versuchte Wortfetzen aufzuschnappen und wiederzuerkennen, weil ihn der Klang und die Farbe der Sprache so sehr faszinierten.
Später verbrachte er viel Zeit in der öffentlichen Bücherei in der Zehnten Straße am Tompkins Square Park. Dort, zwischen alten Männern und Frauen, die im Winter fortwährend husteten oder laut in kopfkissengroße Taschentücher schnäuzten, studierte er Marco Polos Reiseberichte, Konfuzius, Laotse und Mao, verstand nur wenig von dem, was er las, was ihn aber nicht weiter störte, solange ihm die Bücher halfen, sich nach China fortzuträumen.
Später, auf seinen Reisen, lernte er, wie wenig seine Phantasien mit der chinesischen Realität zu tun hatten, aber der Abschied vom Land seiner Träume fiel ihm nicht allzu schwer. Die Wirklichkeit war in den achtziger Jahren, der Zeit der langsamen Öffnung, noch aufregender und interessanter, als er es sich je vorgestellt hatte, und als Burg, als Ort, wo er in seinen Träumen Zuflucht suchen konnte, brauchte er China nicht mehr. Mit der Geburt Justins war sein Interesse an diesem Land abgeflaut, nach der Diagnose war es völlig
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