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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Oder war sie einfach nervös, hatte sein Wunsch, die Wohnung zu sehen, ihr Misstrauen geweckt? Ihr Mann war gestern in der Wohnung gewesen und hatte gesagt, er hätte nichts Auffälliges entdecken können. Hatte er möglicherweise etwas übersehen? Eine Nachricht? Eine Notiz? Einen Abschiedsbrief?
    Elizabeth Owens Hände zitterten, als sie die Tür aufschloss. Mit einer kurzen Kopfbewegung bat sie Paul voranzugehen.
    »Hallo, ist jemand zu Hause?«
    Keine Antwort. Er hörte nur das sonore Brummen der Klimaanlage. Im Flur hingen eine Jacke und ein Anzug, darunter standen zwei Paar Schuhe. Es war kalt und roch stark nach Scheuer- und Desinfektionsmitteln.
    »Was hat Ihr Freund gesagt, wonach wir suchen sollen?«
    »Nichts Bestimmtes. Er meinte nur, wir sollten sicherheitshalber noch einmal nachschauen. Vielleicht finden wir irgendeinen Hinweis.«
    »Was für einen Hinweis?«
    »Ich habe keine Ahnung, Frau Owen. Die Kopie eines Flugtickets? Eine Hotelreservierung?«
    Paul schob einen Vorhang beiseite, der den Flur vom Wohnzimmer trennte. Es war ein großer Raum mit dunklem, auf Hochglanz poliertem Holzfußboden, weißen, bilderlosen Wänden und einer Fensterfront, die vom Boden bis unter die Decke reichte. Der Blick ging Richtung Hafen, war aber von Neubauten fast ganz versperrt, nur an einer Stelle, zwischen zwei Hochhäusern, konnte Paul im Dunst das Wasser ausmachen. In der Mitte des Zimmers standen zwei schwarze Ledersofas und eine Holztruhe, gegenüber ein ovaler Esstisch mit vier Stühlen. Paul sah weder Zeitungen noch irgendwelche Zettel, Briefe oder Unterlagen herumliegen, vermutlich hatte das philippinische Hausmädchen gestern oder heute Vormittag noch geputzt und Ordnung gemacht. Er warf einen Blick in die Küche, auch dort war alles sauber, keine Essensreste, kein schmutziger Frühstücksteller in der Spüle, keine halb leere Kaffeetasse oder Teekanne auf dem Tresen. Ein schmaler Flur, von dem das Bad und zwei weitere Zimmer abgingen, führte in den hinteren Teil der Wohnung. Das Schlafzimmer war dunkel und klein, neben dem gemachten Bett und einer Kommode, auf der mehrere gebügelte und zusammengelegte Oberhemden lagen, gab es kaum noch Platz. Der zweite Raum hingegen war hell und groß und, im Vergleich zum Rest der Wohnung, unordentlich. Auf dem Boden lagen mehrere Stapel von Papieren, Zeitungsausschnitten und Büchern, die Regale waren mit Aktenordnern gefüllt. Auf dem Schreibtisch standen zwei große Flachbildschirme, daneben lagen zwei Mobiltelefone, ein Notizbuch, ein Kalender, mehrere Zettel mit handschriftlichen Notizen, einige Briefe und ein kleiner Stapel ungeöffneter Post. Unter dem Tisch stand eine große Computeranlage. Paul konnte auf den ersten Blick nichts entdecken, was ihm verdächtig oder auffällig vorgekommen wäre. Es war die typische Hongkonger Wohnung eines jungen Menschen aus Europa oder Amerika, der für einige Jahre in der Stadt lebt, oft allein, um als Banker oder Rechtsanwalt im Geschäft mit
    China in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld für sich und sein Unternehmen zu verdienen. Die Geschäftsleute waren so austauschbar wie ihre Wohnungen. Paul überlegte, ob er in diesen Räumen etwas Persönliches bemerkt hatte, einen Hinweis auf ein besonderes Interesse, eine Vorliebe, eine Leidenschaft? Andenken an eine Reise? Bilder von Menschen, die dem Bewohner etwas bedeuteten? Bücher, Musik, die ihn bewegten? Ihm fiel nichts auf.
    Elizabeth Owen war ihm wie ein Schatten durch die Räume gefolgt. Jetzt stand sie in der Tür und beobachtete noch immer jede seiner Bewegungen. Seit sie in der Wohnung waren, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, und das Schweigen war für Paul unerträglich geworden. Sie wusste, dass er log, und wenn sie es nicht wusste, dann spürte sie es zumindest, roch es, sah es an seinem Gang, in seinen Augen, an der Art, wie er ihr auswich. Er konnte die Angst in ihrem Gesicht nicht mehr ertragen und wandte sich ab.
    »Wenn Sie etwas wüssten, Herr Leibovitz, würden Sie es mir sagen?«
    Nicht schwindeln, Papa, sag die Wahrheit. Gewiss, Justin, die Wahrheit, du hast ja Recht, aber wie viel wollen wir wirklich wissen? Wie viel Wahrheit erträgt der Mensch, ohne zu verzweifeln? Nicht jeder ist so tapfer wie du. Sag mir, was soll ich Elizabeth Owen antworten? Dass ihr Sohn mit zertrümmertem Schädel im Keller des Polizeipräsidiums von Shenzhen liegt, ist das die Wahrheit? Ich weiß nicht, was ich dieser Frau sagen soll, ich wünschte, du

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