Das Flüstern der Schatten
Mei in einem Ton, der sich nicht zwischen Ärger und Sorge entscheiden konnte. »Dann kommst du auch die Treppen wieder hoch.«
»Es ist nicht die Puste. Es sind die Beine. Das ist viel schlimmer.« David rieb sich mit beiden Händen das rechte Knie.
Paul wusste von den Gelenkschmerzen seines Freundes. Sie waren eine ständige Erinnerung an die Jahre, die er während der Kulturrevolution auf dem Land verbracht hatte. Seine erste Entzündung im Knie hatte er erlitten, nachdem er mit einer Gruppe Jugendlicher 48 Stunden fast ohne Pause Reis gepflanzt hatte. Zwei Tage und Nächte hatten sie auf dem Feld gestanden, oft knietief im kalten Wasser, um zu beweisen, dass sie keine verwöhnten Stadtkinder waren, nicht die verhätschelten Bälger verweichlichter Intellektueller, sondern dass sie der Revolution dienen konnten wie alle anderen auch. Zwei aus der Gruppe starben wenige Tage später an Lungenentzündung, bei David war es nur das Knie, das anschwoll und über Wochen unerträglich weh tat. Ein Schmerz, der sich mit den Jahren zu einer Art Rheuma entwickelte und mit zunehmendem Alter immer schlimmer wurde.
Mei reichte ihm zwei heiße Umschläge, die er sich um die Knie wickelte.
»Hast du schon gegessen?«, sagte er an Paul gewandt und packte, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tüten aus. In kurzer Zeit roch die ganze Wohnung nach Sesamöl, Knoblauch, Koriander und Ingwer, nach gebratenen Frühlingszwiebeln und Chilipfeffer. Auf dem Tisch standen ein Teller mit kaltem Hühnerfleisch, mehrere Schälchen mit schwarzen und roten Soßen, gebratener Schweinebauch, frittierte Pilze, Wasserspinat und Reis. David nahm zufrieden Platz.
»Verrätst du mir, warum ich dich nur noch auf Meis Handy anrufen soll?«, fragte Paul, nachdem er seinen Freund gebührend für das Essen gelobt hatte
David nahm sich ein fettes Stück Schweinebauch, bevor er antwortete.
»Weil ich mir nicht sicher bin, wer auf meinem dienstlichen Mobiltelefon alles mithört. Normalerweise stört mich das nicht, aber dieser Fall ist etwas anderes.«
»Warum?«
»Warum?« David spuckte einen Bissen Schwarte aus. »Ich hab gestern versucht, es dir zu erklären. Ein Mord an einem Ausländer ist in China nicht einfach ein Mord. Er ist ein Gesichtsverlust. Ein Imageschaden. Unter Umständen ein wirtschaftliches Problem. Die Behörden unternehmen alles, damit sich Ausländer sicher fühlen. Ich wüsste nicht, dass es hier in Shenzhen je einen ähnlichen Fall gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so dämlich ist, einen Ausländer zu überfallen, auszurauben und ihn auch noch umzubringen. Es gibt genug reiche Chinesen.«
»Wer hätte sonst Grund, einen jungen Amerikaner zu töten?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber ich fürchte, genau da fangen die Probleme an. Kannst du mir etwas über die Geschäfte der Owens in China erzählen?«, fragte David.
»Nicht viel. Sie erwähnten, dass sie eine Fabrik hier haben. Oder sogar mehrere, ich erinnere mich nicht genau.«
»Was produzieren sie?«
»Ich weiß es nicht.«
»Haben sie keine Andeutung gemacht? Spielzeug? Lampen? Schuhe?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Kennst du den Namen des Unternehmens?«
»Nein. Ich habe sie nicht gefragt. Sie haben aber gesagt, ihr Sohn wäre mit einem Herrn Tang verabredet gewesen. Es klang, als wäre das ihr Geschäftsführer oder Joint-Venture-Partner.«
»Tang Ming Qing?«
Paul sollte später noch häufig an diesen Moment zurückdenken. An Davids weit aufgerissene Augen. An das Zucken seiner Lippen. Warum hatte er diese ungewöhnliche Reaktion nicht als Warnung erkannt? Warum hat er nicht mehr Fragen gestellt? Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.
»Nein«, erwiderte Paul unsicher. »Wenn ich mich richtig erinnere, erwähnten sie keinen chinesischen Namen.«
»Auch Victor Tang genannt?«
»Ja, ich glaube, so hieß er.«
David starrte seinen Freund ungläubig an.
»Bist du sicher?«
»Ziemlich. Wer ist das?«
»Victor Tang ist...« David suchte nach Worten, »ein außergewöhnlich einflussreicher Mann«, beendete er nach einigen Sekunden seinen Satz. Paul wartete auf eine Erklärung, die die plötzliche Anspannung seines Freundes erklären könnte, aber David schwieg.
Mei starrte auf ihren noch halb gefüllten Teller.
»Was heißt einflussreich?«, fragte Paul nach einer Weile.
»Du kennst ihn nicht einmal vom Namen?«, erwiderte David.
Paul überlegte. Victor Tang? Tang Ming Qing? Der Mann musste sehr
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