Das Flüstern der Schatten
könntest mir helfen. Mir gehen die Wörter aus, ich verliere die Sprache. In mir herrscht Stille, Justin, nichts als eine unheimliche, grauenvolle Stille. Sag doch was.
»Warum antworten Sie mir nicht?«
Paul schwieg.
»Antworten Sie mir.« Was wie eine Anordnung, wie ein Befehl klingen sollte, war doch nur ein flehentliches Bitten.
»Antworten Sie mir.« Ihre Stimme war jetzt so laut und schrill, dass sie kippte. Paul drehte sich abrupt um. Elizabeth Owen stand direkt vor ihm, schluchzend, zitternd. Er nahm sie in den Arm, ein Reflex, er konnte gar nicht anders, als sie sanft an sich zu drücken. Er spürte, wie ihr Körper bebte und zitterte, hörte sie weinen, ein Weinen, das kein Morgen kennt, keine Hoffnung und keinen Trost; das ihm so vertraut war. Er führte sie ins Wohnzimmer, legte sie auf ein Sofa, holte ein Glas Wasser und ein Handtuch und blieb neben ihr sitzen. Sie hielt plötzlich eine Tablette in der Hand und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter. Paul wartete, bis sie sich beruhigt hatte, die Augen schloss und ihr ruhiger, gleichmäßiger Atem verriet, dass sie eingeschlafen war. Vermutlich war es eine Valiumtablette gewesen. Dann stand er auf, ging zurück ins Büro und rief David an.
»Michael Owen hatte als Jugendlicher einen Sportunfall. Er ist drei Mal am linken Knie operiert worden.« Paul hörte, wie David einen tiefen Seufzer ausstieß. »Das tut mir leid. Hast du ihr etwas gesagt?«
»Nein, das werde ich auch nicht.«
»Gut. Wo bist du jetzt?«
»In seiner Wohnung«, sagte Paul und beschrieb den Zustand jedes einzelnen Zimmers.
»Hast du dir die Notizen durchgelesen?«
»Nein. Das ist ein ganzes Buch. Frau Owen kann jederzeit aufwachen, wie soll ich ihr erklären, dass ich in den Sachen ihres Sohnes herumschnüffle?«
»Kannst du in den Schubladen der Schlafzimmerkommode und in den Regalen hinter den Ordnern gucken?«
»Frau Owen wird sich wundern, wenn ich mit einer Hausdurchsuchung anfange.«
David überlegte. »Was ist mit dem Computer? Kannst du ihn mitnehmen, ohne dass sie es merkt?«
»Unmöglich, das ist ein großes Gerät.«
»Siehst du einen Laptop?«
Paul schaute umher.
»Nein.«
Er öffnete die oberste Schreibtischschublade.
»Hier liegt eine kleine Festplatte. Vielleicht hat er sie zum Sichern seiner Daten benutzt.«
»Gut. Steck sie ein. Noch etwas?«
Paul zog die anderen Schubladen auf. »Papierkram. Geld. Eine Digitalkamera. Ein Kasten mit Telefonchips und Speicherkarten, glaube ich.«
»Einpacken.«
»Soll ich das nicht lieber der Polizei überlassen?«, fragte Paul.
»Nein, auf keinen Fall. Das können wir später immer noch übergeben. Nimm so viel mit, wie du vor ihr verbergen kannst. Die Handys. Die Speicherchips. Das Notizbuch, den Kalender auf dem Schreibtisch, alles, wo wir Termine, Orte, die Namen seiner Kontakte in China finden könnten.«
»Und was soll ich dann mit den Sachen machen?«
»Zu mir bringen. So schnell wie möglich.«
Elizabeth Owen schlief noch, als Paul ins Wohnzimmer zurückkam. Er ging wieder ins Büro, steckte die beiden Handys und die kleine Digitalkamera in seine Hosentaschen, wickelte die Festplatte, das Kästchen mit den Speicherchips und die Notizbücher in seine Jacke, schrieb eine kurze Nachricht für Frau Owen, legte sie im Wohnzimmer auf den Tisch und verließ so leise wie möglich die Wohnung.
Während der Fahrt zur Grenze gingen ihm Davids Worte nicht aus dem Kopf. Seine Stimme hatte ungewöhnlich scharf geklungen, fast ein wenig fremd. Was hatten seine Anweisungen zu bedeuten? Dass er den meisten seiner Kollegen mit Argwohn begegnete, konnte Paul verstehen, aber warum misstraute er in diesem Fall den Ermittlungen der Hongkonger Mordkommission, bevor die mit ihrer Arbeit überhaupt begonnen hatte? Gab es Verbindungen zwischen der Polizei in Shenzhen und Hongkong, von denen David wusste, oder wollte er nur vorsichtig sein? Sein Verhalten war mehr als sonderbar.
Paul überlegte, ob er Christine anrufen sollte, und entschied, es nicht zu tun. Sie würde sich nur Sorgen machen, er würde in ein paar Stunden wieder zurück sein und sich dann melden.
In Shenzhen kaufte er sich am Bahnhof eine Aktentasche aus schwarzem Kunstleder, in die er Michael Owens Sachen packte. Obgleich er sich nicht vorstellen konnte, dass sie etwas Geheimnisvolles verbargen, beschlich ihn doch ein seltsames Gefühl, und er hielt die Tasche mit beiden Händen vor der Brust fest. Er wollte David anrufen und ihn bitten, ihn vom Bahnhof
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