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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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abzuholen, aber dann kam ihm dieser Wunsch albern vor. Sie waren diese Strecke gestern gemeinsam gefahren, es waren vier U-Bahnstationen, gefolgt von einem knapp zehnminütigen Fußweg, dazu sollte er auch ohne die Hilfe seines Freundes in der Lage sein.
    Die U-Bahn war genauso leer wie gestern, doch kaum war Paul ausgestiegen, fühlte er sich unsicher. Welchen Ausgang hatten sie genommen? A 1? B? D?
    Auf der Straße suchte er vergeblich nach etwas Vertrautem. Ihm fiel ein, dass sie gestern an einer Baustelle vorbeigegangen waren. Jetzt blickte er sich um und sah in seiner Nähe mindestens drei große Baustellen. Er fragte einen Passanten nach dem Citic-Plaza-Einkaufszentrum, aber der hastete weiter, ohne zu antworten.
    Eine Frau stellte sich ihm herausfordernd in den Weg, sie war klein und kräftig, hatte ein rotes Gesicht. »Massage, Mister? Massage?«
    Paul schüttelte den Kopf. Sie machte keine Anstalten, ihm Platz zu machen, und starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Billig. Billig.« Schließlich schob er sie mit einer Armbewegung beiseite.
    Ein paar Meter weiter passte ihn ein Mann ab, lief eine Weile neben ihm her und raunte: »He, Fremder. Schöne Mädchen. Sehr schöne Mädchen.« Paul versuchte, ihn zu ignorieren. »Renn doch nicht so. Sie warten auf dich. Super Massage, ehrlich. Die beste in der Stadt. Du verpasst was, ich verspreche es dir.« Paul schwieg immer noch. »Du kannst sie auch ficken, wenn du willst. 250 Yuan. Ohne Kondom das Doppelte.« Paul blieb stehen. Er wollte diesen aufdringlichen Scheißkerl anbrüllen, er solle ihn in Ruhe lassen, er sei nicht an käuflichen Mädchen interessiert. Er holte tief Luft, aber anstatt zu schreien, atmete er mit einem tiefen Seufzer aus und musste dabei an einen verschrumpelten Ballon denken, aus dem die Luft entwichen ist. Der Fremde schaute ihm direkt ins Gesicht und grinste ihn spöttisch an. »Verstehe. Also Viagra. Fünfziger oder Hunderter Packung? Supergünstig. Ehrenwort.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte der Mann sich ab und verschwand.
    Paul irrte weiter durch die Straßen. Er war kurz vorm Verzweifeln.
    Es konnte nicht wahr sein: Er war diesen Weg nicht nur gestern gegangen, er hatte dieses Viertel sicher mehrere hundert Mal durchlaufen, und nun konnte er nichts Vertrautes mehr finden, das ihm den Weg gewiesen hätte. Endlich entdeckte er zwischen zwei Hochhäusern hindurch die Spitze des Einkaufszentrums. Zehn Minuten später stand er vor Davids Haus. In den unteren Etagen hingen so viele rosafarbene Schlüpfer an Wäscheleinen aus den Fenstern, dass er zweifelte, ob er richtig war, bis er Davids Namen auf dem Klingelschild fand.
    Mei öffnete die Tür und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Paul hatte sie immer als ausgesprochen schöne Frau empfunden, auch wenn sie nicht dem Idealbild einer Chinesin entsprach, dazu war sie zu klein. Sie hatte die kurze, kräftige Figur ihrer Mutter, einer Bäuerin aus Sichuan, geerbt, aber sie besaß einen sehr sinnlichen Mund und Augen, in deren Blick eine ansteckende Lebensfreude lag.
    »Komm rein. David kauft gerade noch ein. Er müsste jeden Moment zurückkehren. Möchtest du einen Tee?«
    »Ja gern.« Paul setzte sich an den Klapptisch und stellte die Aktentasche zu seinen Füßen. »Sag mal, was haben denn die vielen Unterhosen da draußen zu bedeuten?«
    »Heute ist Waschtag im Puff«, antwortete sie, machte die Gasflamme an, holte aus einer Dose einen großen Löffel dunkelgrüner Teeblätter und streute sie in eine alte Porzellankanne. Plötzlich drehte sie sich um. »Es ist schön, dich wieder häufiger zu sehen, Paul«, sagte sie.
    »Danke«, antwortete er etwas überrascht.
    »Wir haben dich vermisst.«
    »Ich euch auch.«
    »Wirst du jetzt wieder öfter vorbeikommen?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht.«
    Er schwieg, unsicher, ob in ihren Worten noch eine andere, tiefere Bedeutung lag, ob es etwas gab, worauf sie hinaus wollte.
    »Da ist etwas, worüber ich mit dir reden möchte«, sagte sie, und ihre Stimme wurde ungewöhnlich leise. »Ich mache mir Sorgen.«
    »Sorgen? Weshalb?«
    Noch bevor Mei antworten konnte, hörten sie Davids Schnaufen auf der Treppe. Leise fluchend steckte er seinen Schlüssel ins Türschloss. Mei drehte sich wortlos um und goss das heiße Wasser in die Kanne.
    Mit einem lauten Stöhnen stellte David die Einkaufstüten ab und sank auf einen Küchenhocker. »Irgendwann müsst ihr mich hier hochtragen«, sagte er.
    »Hör endlich mit dem Rauchen auf«, antwortete

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