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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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hält er bei einem Abendessen eine junge Frau im Arm, mal sitzt er in einem Büro hinter einem großen Schreibtisch, mal im Flugzeug. Unter »A.« gab es ausschließlich Bilder jener Frau, die Tang bei einem Abendessen umarmt hatte. Es war eine junge, sehr gut aussehende Chinesin mit einem herausfordernden, fast provozierenden Lächeln. Sie stand mit einem Prada-Täschchen auf dem Bund in Shanghai, in der Verbotenen Stadt in Peking, in der Lounge eines Luxushotels. Sie saß in einem rosafarbenen Morgenmantel an einem Frühstückstisch, lag schlafend in einem Bett oder nackt, mit halb gespreizten Beinen, ihre Scham mit einer Hand verdeckend, auf einem Sofa. Paul vergrößerte das Bild, um sie besser erkennen zu können. Sie hatte die blasse Haut, die hohen Wangenknochen und das ovale Gesicht einer Nordchinesin, sie lächelte, aber etwas in ihrem Blick war Paul unheimlich. Er fühlte sich wie ein Eindringling, wie ein Fremder in einer Welt, die er eigentlich gar nicht betreten wollte. Er klickte wahllos auf verschiedene Dokumente und Ordner, sie waren alle mit verschiedenen Passwörtern gesichert. Lediglich einen Brief, der auf dem virtuellen Schreibtisch lag, konnte er öffnen. Er las ihn, einmal, zweimal, schloss das Dokument wieder, klappte den Computer zu und wünschte, er hätte ihn nie geöffnet.
    Paul rief die Nummer an, die David ihm hinterlassen hatte, aber das Handy war ausgeschaltet. Er irrte ziellos durch das Haus. Draußen war es dunkel geworden, ein heftiger Wind wehte, der Vorbote eines möglichen Taifuns. Er hörte das Rauschen der Blätter und das laute Knacken und Knarren des sich im Wind wiegenden Bambus. Zum ersten Mal, seit er hier wohnte, war ihm unheimlich zumute, er wollte mit jemandem reden, er wollte eine menschliche Stimme hören. Er schaute auf die Uhr, wenn er sich beeilte, könnte er die Fähre um halb neun bekommen und Christine noch für einen Drink oder etwas Süßes in einem Coffee-Shop in Wan Chai treffen.
    Er lief los und wählte von unterwegs ihre Nummer. Sie war nicht mehr im Büro. Sie saß mit ihrem Sohn zu Hause in Hang Hau auf dem Sofa und würde sich sehr über seinen Besuch freuen.
    Hang Hau. Paul war sich nicht sicher, ob seine Kräfte dafür noch reichten.

XV
    Es gab Tage, an denen spürte David Zhang eine fast körperliche Abneigung, das Polizeipräsidium zu betreten. Da brannte ihm der strenge Geruch der Reinigungsmittel bereits nach wenigen Schritten auf dem Flur in der Nase, da tat ihm das permanente Rauschen der Klimaanlage in den Ohren weh, die kalte Luft ließ ihn frieren, und der Zwang, mit mehreren Menschen Stunden in einem engen, verrauchten Raum zu verbringen, Akten zu lesen oder zu telefonieren, verursachte ihm Übelkeit bis zum Erbrechen. An solchen Tagen zog er sich in sein Schneckenhaus zurück, sprach nur das Notwendigste, versteckte sich hinter Bergen von Ordnern, las stundenlang in Protokollen, bis er sie fast auswendig kannte, ging allein essen und verlängerte die Mittagspause bis in den Nachmittag hinein.
    Heute war so ein Tag. Schon beim Anblick der jungen, uniformierten Frauen und Männer am Eingang schüttelte er sich einmal kurz, als wäre ihm kalt. Vielleicht, dachte David, vielleicht hat Mei doch Recht, und es war an der Zeit, den Polizeidienst zu verlassen und sich etwas anderes zu suchen. Ein Kommissar, für den es keine gerechte Strafe gab, weil Strafe und Gerechtigkeit nichts miteinander zu tun hatten, war auf die Dauer untragbar, zumal wenn er kein rechtes Vertrauen zu seinen Kollegen hatte. Mei behauptete immer, er wäre besser Rechtsanwalt geworden anstatt Kommissar, er sei viel zu weich für seine Arbeit, würde für jeden noch so miesen Verbrecher Verständnis aufbringen und versuchen, für jede noch so abscheuliche Tat eine Erklärung zu finden. Er widersprach ihr nicht, er war in den vergangenen zwanzig Jahren nicht einem Mörder oder Gewalttäter begegnet, in dem er nicht zumindest einen Schatten von sich selber gesehen hatte. Waren nicht alle Menschen zu allem fähig? Mussten wir nicht gegenüber unserem Schicksal, unserem Karma, unserem Gott täglich aufs Neue demütig und dankbar sein, dass sie uns nicht in Situationen bringen, in denen die destruktivsten Kräfte in uns ihre ganze Macht entfalten. Als wenn es daran für Chinesen nach der Kulturrevolution auch nur den geringsten Zweifel geben konnte.
    Drei lausige Pfefferkörner.
     
    Im Büro standen die Kollegen in kleinen Gruppen, tranken Tee und diskutierten über den Fall

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