Das Flüstern der Schatten
eben so laut geworden bin«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du überforderst mich.«
»Das habe ich befürchtet, aber mir ist es ernst, ich brauche deine Hilfe. Wenn dieser Arbeiter tatsächlich der Mörder war, wer hat dann Michaels Wohnung durchsucht?«
Paul stöhnte laut auf, nahm ein Bund Frühlingszwiebeln und schnitt sie in dünne Scheiben. »Wenn ich lange genug überlege, bekomme ich natürlich Zweifel. Aber welche Konsequenzen hätte das?«
David drehte sich um und schaute ihn fragend an.
»Vor vielen Jahren«, fuhr Paul fort, »war ich in eine Frau verliebt, sie hatte Angst vor der Reaktion ihrer Familie und lehnte eine Affäre mit mir mit den Worten ab: ›Ich stamme aus Hongkong. Meine erste Frage lautet immer: Was wird mich das kosten.‹ Ich habe diesen Satz nie vergessen, und ich höre ihn jetzt. Ich habe keine Ahnung, was es uns, dich und mich, kosten würde, falls der Mörder Michael Owens noch frei herumläuft, aber mein Gefühl sagt mir, dass es ein hoher Preis wäre, und ich bin mir nicht sicher, ob ich den wirklich zahlen möchte. Ich bin kein Kommissar.«
Darüber dachte David lange nach. Dann sagte er: »Das verstehe ich. Würdest du mir zumindest den Gefallen tun und heute Abend noch einmal versuchen, ob du die Festplatte öffnen kannst? Möglicherweise haben wir Glück, und du findest den richtigen Code. Ich werde mir morgen die Vernehmungsprotokolle durchlesen. Vielleicht haben wir den Mörder ja wirklich schon, und wir machen uns viel zu viele Gedanken.«
»Mache ich«, versprach Paul. Die Chancen, in das Programm hineinzukommen, standen gleich null.
Nach dem Essen setzten sie sich auf die Terrasse, tranken Tee und spielten zwei Partien chinesisches Schach, dann brach David nach Shenzhen auf. Er hatte Lo versprochen, morgen wieder im Präsidium zu sein.
Als er allein war, putzte Paul das Haus, fegte den Garten und überlegte, was er noch tun könnte, um den Gang zum Computer weiter hinauszuschieben.
Welches Kennwort könnte ein Footballfan benutzen? Allein mit Vince Lombardi und den Green Bay Packers gab es vermutlich Tausende von Möglichkeiten. Der Name von Michaels Lieblingsspieler. Oder dessen Geburtsdatum. Der Name des Quarterbacks jener Mannschaft, die das letzte Mal den Super Bowl gewann. Die Anzahl seiner Touchdowns. Paul rief im Internet die Webseite des Vereins auf. Vier Mal hatten sie die Meisterschaft gewonnen. Er tippte »Lombardi 4« in das Fenster mit dem Kennwort. Fehlermeldung. »Lambeau«, der Name ihres Stadions? Fehlermeldung. »Dave Starr«, ihr Quarterback in den sechziger Jahren? Nein. Paul starrte auf den Bildschirm und überlegte. Er selbst hatte »Justin95« für all seine Konten, Geheimnummern und Kennwörter gewählt. Ein Name und eine Jahreszahl. Welches Jahr könnte für den Anhänger eines Sportclubs das wichtigste sein? Das Gründungsjahr? »GreenBayPackers1911«. Quatsch, dachte Paul, welcher Fan interessiert sich für das Gründungsjahr eines Vereins, was zählt sind Titel, Meisterschaften, so viel hatte er vom Profisport begriffen. »GreenBayPackers 1967«, das Jahr, in dem sie zum ersten Mal den Super Bowl gewannen. Nein. Er erinnerte sich, wie die anderen Jungs früher von »Yankees«, »Giants« oder »49ers« gesprochen haben, Fans mögen Abkürzungen. »Packers1967«. Falsch. »Packers67«. Akzeptiert. Das Fenster mit dem Kennwort verschwand, und Paul zuckte erschrocken zusammen. Als hätte ihm plötzlich ein Fremder von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt.
Auf dem Bildschirm erschien nun ein Foto der Chinesischen Mauer, überdeckt von mindestens zwei Dutzend Ordnern. »Briefe«, »Fotos«, »Heavy Metal«, »Vic« hießen einige von ihnen.
Paul spürte, wie sein Herz heftiger zu pochen begann. Eine verborgene Kraft in ihm widersetzte sich dem nächsten Mausklick, als gäbe es eine unsichtbare Grenze, die er nicht überschreiten dürfte. Noch ein Mausklick, und es gab kein Zurück mehr. Paul raufte sich die Haare. Endlich öffnete er den Ordner »Fotos«, der sich in zahlreiche andere Rubriken unterteilte. Er klickte auf »Shanghai«. Statt der erwarteten Reiseschnappschüsse und Stadtansichten blickte er auf Bilder einer großen Baustelle. Krähne, Bagger, ein gegossenes Fundament, Michael Owen und ein kleiner Chinese mit Bauarbeiterhelmen, Schulter an Schulter, lächelnd. Unter »Tang« erwarteten ihn Fotos eines groß gewachsenen Mannes, etwa in Pauls Alter, der immer etwas gezwungen in die Kamera blickte. Mal
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