Das Flüstern der Schatten
Michael Owen. Davids Frage nach einer Kopie der Vernehmungsprotokolle ließ sie verstummen. Warum wollte er die haben? Der Fall war laut Lo praktisch abgeschlossen, das Geständnis nur noch eine Frage von Stunden.
Es gab noch gar kein unterschriebenes Geständnis?
Nein, wie er denn darauf komme?
Er dachte an Tang. Warum hatte der Richard Owen erzählt, es läge bereits ein unterschriebenes Geständnis vor? Hatten Lo oder Yip ihm ein solches schon nach den ersten Verhören angekündigt? Oder war es umgekehrt: Hatte Tang beschlossen, dass es ein Geständnis zu geben hatte, dies als Tatsache den Owens mitgeteilt, sodass Lo und Yip nun an der Ausführung arbeiteten?
David fragte, wo der Verdächtige vernommen werde.
In einem der Kellerräume.
Nach einer kurzen Diskussion gab ihm ein Kollege ein paar Blatt Papier mit einer Zusammenfassung der gestrigen Verhöre und einem Steckbrief des Verdächtigen.
Es war die typische Biografie eines Wanderarbeiters. Tzu stammte ebenfalls aus der Provinz Sichuan, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Chengdu, und war der Sohn eines Bauern und einer Bäuerin. Er war zweiundreißig Jahre alt, verheiratet, hatte ein Kind, lebte seit acht Jahren in Shenzhen und arbeitete seit einem Jahr in der Gießerei von Cathay Heavy Metal. Laut Protokoll war er ein guter Freund eines jener Arbeiter, die vor einigen Wochen bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen waren. Aus Trauer und aus Wut über die schlechten Sicherheitsvorkehrungen in der Fabrik wollte Tzu sich an Michael Owen rächen. Er lauerte dem Geschäftsführer in der Nähe der Fabrik auf, versperrte seinem Wagen mit einem Fahrrad den Weg, um Owen zur Rede zu stellen. Dass der Amerikaner ihn nicht verstand und mit Gebrüll und abfälligen Handbewegungen reagierte, machte Tzu nur noch wütender, er hatte das Gefühl, der Ausländer lasse jeden Respekt vermissen. Auch wenn er, Tzu, nur ein kleiner Arbeiter war, so hatte er doch seinen Stolz. Als sich Tzu weigerte, die Straße frei zu machen, wurde Michael Owen handgreiflich, dafür gab es zwei Augenzeugen, die die Szene aus einem Lokal heraus beobachtet hatten. Tzu wehrte sich, er nahm ein am Straßenrand liegendes Eisenrohr und schlug im Zorn mehrfach auf Michael Owen ein. Als der sich nicht mehr bewegte, geriet Tzu in Panik, packte sein Opfer in den Wagen, fuhr mit ihm in den Daitouling Forest Park, legte es dort in die Büsche und stahl ihm Bargeld und Kreditkarten, um einen Raubmord vorzutäuschen.
Die Polizei stellte das Eisenrohr sicher und nahm die Aussagen der Augenzeugen auf.
Es ist alles da, dachte David, nachdem er die Zeilen mehrmals gelesen hatte: Motiv, Augenzeugen, Tatwaffe, es fehlt nur noch die Unterschrift des Täters. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Lo gleich selbst unterschrieben hätte.
Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Tat so ereignet hatte? Könnte ein Arbeiter wirklich den Mut aufbringen, den Besitzer der Fabrik, der noch dazu ein Ausländer ist, anzugreifen? Nicht ausgeschlossen, dachte David, wenn die Wut nur groß genug ist. Der Tod eines Freundes kann ein Auslöser dafür sein. Ein Eisenrohr am Straßenrand? Ebenfalls gut möglich, es lag eine Menge Schrott und Gerümpel auf Shenzhens Straßen herum. Wie könnte der Kampf verlaufen sein? War Tzu stark genug, um Michael Owen, der jünger und vermutlich auch größer und kräftiger war, tödlich zu verletzen? David stellte sich die Szene vor: Owen steigt aus seinem Auto, versucht mit dem Chinesen zu reden, wird wütend, weil der ihn nicht versteht oder beschimpft, wendet sich irgendwann wieder ab, geht zurück zu seinem Wagen, wird von hinten angegriffen. Eine Möglichkeit. Aber wie hat Tzu den Toten in den Park bekommen? Männer vom Land wie er können selten Auto fahren, und erst recht keinen Mercedes oder BMW, den Michael Owen vermutlich besaß. Warum hat Tzu die Leiche ausgerechnet in den Daitouling Forest Park gebracht? Für die Vortäuschung eines Raubmordes wären die Gassen rund um die Ausländerbars in Shekou viel geeigneter gewesen. Laut Obduktionsbericht waren Michael Owens linker Arm mehrmals gebrochen, der Brustkorb gequetscht und die rechte Schulter ausgekugelt. Konnte Tzu ihn allein so zugerichtet haben? Oder hatte er Komplizen, die mit diesem Geständnis geschützt werden sollen?
Es waren Fragen, nach deren Antworten niemand mehr suchen würde. Der Fall war für die Polizei in dem Moment abgeschlossen, in dem Tzu ein Geständnis unterschrieb. Jedes chinesische
Weitere Kostenlose Bücher