Das Flüstern der Schatten
Lamma auf Reede lagen. Sie hatten auf der Fahrt noch kein Wort miteinander gesprochen, und allmählich wurde Paul das Schweigen seines Freundes unheimlich. Was ging in ihm vor? Ihre Suche in Michael Owens Wohnung war erfolglos gewesen, aber der Fall schien gelöst zu sein. Warum sah David dann so deprimiert aus?
»Woran denkst du, David?«
David blickte ihn lange an. Seine Augen sahen müde aus.
»Ich weiß nicht, was ich von der Sache halten soll. Vielleicht kannst du mir helfen.«
»Ich? Wie denn das?«
»Sage mir, ob du die Geschichte glaubst, und sei dabei ganz ehrlich«, fragte David nach langem Schweigen.
»Warum sollte ich nicht ehrlich zu dir sein?«
»Weil du sie glauben möchtest.«
Dem konnte er nicht widersprechen. Paul hatte die Nachricht von der Festnahme und dem Geständnis mit zunehmender Erleichterung gehört und über die Frage eines möglichen Irrtums nicht weiter nachdenken wollen.
»Warum soll sie nicht wahr sein?«, antwortete er.
»Dass ein Arbeiter im Streit seinen Chef erschlägt, passiert heutzutage sicherlich häufiger in China«, sagte David und klang dabei, als würde er laut nachdenken. »Aber einen Ausländer?«
»Die Arbeiter haben dir doch erzählt, dass es vor ein paar Tagen schon Streit und ein Handgemenge gegeben hat. Warum soll das nicht eskaliert sein?«
»Bis hin zum Mord?«
»Warum nicht? Vielleicht war dieser Tzu oder wie er auch immer heißen mag mit einem der Männer befreundet, die kürzlich bei dem Arbeitsunfall ums Leben gekommen sind? Vielleicht wollte er Rache üben, wer weiß.«
»Möglich.«
»Außerdem hat er die Tat gestanden. Zählt das nicht?«
Paul sah die Zweifel in Davids Gesicht. Sein Freund hatte ihm einmal beschrieben, wie in chinesischen Gefängnissen Geständnisse zustande kommen können. Da waren zwei Räume im Keller des Präsidiums, die kaum jemand betreten durfte und in denen besonders schweigsame oder renitente Verdächtige schon mal für ein paar Stunden und gar für ein paar Tage verschwanden. Aber würden sie ausgerechnet in diesem heiklen Fall einen Unschuldigen als Täter präsentieren? Paul konnte sich das nicht vorstellen.
»Wie wird es weitergehen?«, fragte er.
»Man wird dem armen Hund einen Pflichtverteidiger zuweisen, in einigen Wochen oder Monaten wird ein Prozess stattfinden, er wird zum Tode verurteilt und bald darauf erschossen.«
»Erschossen?«, fragte Paul erstaunt und ärgerte sich im nächsten Moment über seine Naivität.
»Was sonst? Mord wird bei uns mit dem Tode bestraft, hast du das vergessen?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Du hast also keine Zweifel an der Geschichte?«
»David«, rief Paul mit lauter, schneidender Stimme, »ich habe keine Ahnung, verdammt noch mal. Vielleicht hat der Arbeiter ihn vor Wut erschlagen. Vielleicht stecken die Triaden dahinter, weil Michael Owen krumme Dinger gedreht hat. Vielleicht war es aber auch der Auftragsmord eines Konkurrenten, woher soll ich das wissen? Was erwartest du von mir?«
David atmete zwei Mal tief ein und aus, bevor er antwortete: »Ich bitte dich nur, dir ein paar Sekunden Zeit zu nehmen, die Augen zu schließen und in dich hineinzuhören. Das ist alles.«
»Meine innere Stimme sagt mir...«
»Du hast weder innegehalten noch die Augen geschlossen«, unterbrach ihn David.
Paul verstummte.
Die Fähre legte in Lamma an, sie gingen schweigend von Bord, kauften in Yung Shue Wan für das Mittagessen Wasser, Obst, Gemüse, Tofu und Reis und stiegen den Hügel nach Tai Peng hinauf.
Natürlich wusste er, was David von ihm wollte. Über ihre ›innere Stimme‹ hatten sie früher viel diskutiert. Sie waren beide der Meinung, dass sie allen Menschen eigen ist, aber dass nur die wenigsten auf sie hören, ja, dass es oft schwierig genug war, sie unter all den Ablenkungen des Alltags überhaupt wahrzunehmen. Paul hatte sie häufiger missachtet - hätte er auf sie gehört, wäre es nie zur Hochzeit mit Meredith gekommen - und immer dafür zahlen müssen. Aber seit Justins Tod war diese innere Stimme mehr oder weniger verstummt. In ihm herrschte eine endlose Stille, und in den seltenen Fällen, in denen sich ein Flüstern erhob, ignorierte er es. Die Stimme würde Unruhe in seine mühsam errichtete Ordnung bringen. Das wollte er nicht. Er wollte wandern, allein sein und Kinderschuhe putzen.
Als sie im Haus ankamen, ging David sofort in die Küche und begann zu kochen. Paul setzte sich an den Tresen und würfelte den Tofu.
»Entschuldige, dass ich
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