Das Flüstern der Schatten
wie jetzt Richard Owen. Seitdem hasste er Sport. »Nein«, antwortete er viel leiser als er wollte, »nie gehört.«
Auf dem Bildschirm blinkte erneut eine Fehlermeldung.
Plötzlich spielte das Mobiltelefon Richard Owens die ersten Töne von Frank Sinatras »My Way«, und er nahm das Gespräch so hastig an, als habe er seit Stunden auf diesen Anruf gewartet.
»Oh, Victor, gut dass du dich meldest. Gibt es etwas Neues?«
Paul klappte den Aktenordner zu und richtete sich auf. David drehte sich beim Namen »Victor« erschrocken um, er verstand zwar kein Wort von dem, was Richard Owen sagte, aber dessen immer aufgeregter klingende Stimme und die größer werdenden Augen verrieten ihm, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war.
»Mein Gott... bist du, bist du sicher... so schnell... ich weiß... natürlich... unmöglich... ich kann es nicht glauben, warte, Victor, ich muss mich setzen.«
Richard Owen ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken. Mittlerweile war seine Frau aus dem Wohnzimmer ins Büro gekommen. Als er sie sah, nickte er ihr so aufgeregt zu und begann zu lachen, als habe er soeben erfahren, dass sie Großeltern geworden sind.
»Ja, Elizabeth steht neben mir, ich werde ihr alles berichten... vielen Dank... nein... es gibt keine Zweifel... schon unterschrieben? Von ihm... gut, ich melde mich später, vielen, vielen Dank für deinen Anruf... sicher... was für eine Erleichterung.«
Richard Owen legte sein Mobiltelefon auf den Schreibtisch, stand auf, nahm seine Frau in den Arm und drückte sie fest.
»Elizabeth, sie haben Michaels Mörder verhaftet.«
Seine Frau löste sich aus der Umklammerung und starrte ihren Mann an: »Woher weißt du das?«
»Das war Victor, die Polizei hat ihn gerade angerufen.«
»Wer war es? Wer hat Michael umgebracht?«
»Ein Arbeiter aus der Fabrik. Schuh, Su oder Tsu, Victor hat es mir gesagt, ich habe den Namen vergessen. Er hat sich mit Michael gestritten und dabei mit einem Rohr auf ihn eingeschlagen, dafür gibt es zwei Augenzeugen. Dann ist er geflohen. Die Polizei hat ihn gestern Abend auf dem Bahnhof festgenommen und die ganze Nacht verhört. Heute Morgen hat er gestanden.«
Paul übersetzte leise für David, in dessen Augen und an dessen schmalen, zusammengepressten Lippen glaubte er zu sehen, wie sehr es in ihm arbeitete.
Elizabeth Owen rang um Fassung. Es schien eine Weile zu dauern, bis die Worte ihres Mannes sie erreichten, dann begann ihre erstarrte Miene zu schmelzen wie ein Stück Schokolade in der Sonne. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, und sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Als hätte sie bis zu diesem Augenblick die Hoffnung gehabt, die Festnahme des Mörders würde ihren Sohn wieder lebendig machen.
Richard Owen blickte seine Frau hilflos an. Während des Gesprächs hatte er auf eine seltsame Art erleichtert, fast euphorisch ausgesehen. Erst jetzt begannen seine Lippen zu zittern, und er drehte sich abrupt um. Nach wenigen Sekunden hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Ihre Kollegen haben hervorragend gearbeitet«, sagte er mit förmlicher Stimme an David gewandt. »Meine Frau und ich sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«
Paul übersetzte die Worte, David nickte höflich, aber Paul konnte an seinem Blick erkennen, dass er gar nicht richtig zuhörte.
»Gibt es für Sie hier noch etwas zu tun? Wenn nicht, dann haben Sie sicherlich Verständnis dafür, dass meine Frau und ich jetzt allein sein wollen.«
Richard Owen brachte sie zur Tür, er konnte es offensichtlich kaum abwarten, sie loszuwerden. Sie verabschiedeten sich, stiegen wortlos in den Fahrstuhl und nahmen ein Taxi zurück zum Anleger in Central.
Die nächste Fähre war ein altes Boot, auf Pauls Wunsch setzten sie sich nicht in die klimatisierte Kabine, sondern ins Freie am Heck des Schiffes. Dort roch es unangenehm nach Öl, aber es wehte ein leichter Wind, und sie hatten von hier einen guten Blick auf Kowloon und Hongkong Island. Es war ein dunkler, drückender Tag, die bleigrauen Wolken hingen so tief, dass sie den Peak und die Spitzen des IFCs und des Turms der Bank of China umhüllten. Die Fähre stampfte mühsam durch das aufgewühlte Hafenbecken, Paul betrachtete die Skyline Hongkongs, die im Westen der Insel zwischen Sai Ying Pun und Kennedy Town fast ausschließlich aus dreißig-, vierzigstöckigen Wohntürmen bestand.
Sie ließen Hongkong hinter sich und überquerten den East-Lamma-Channel, vorbei an zwei gewaltigen Containerschiffen, die vor
Weitere Kostenlose Bücher